Schuld hat eine ganz merkwürdige zentrale Rolle in unser aller Leben. Wann immer etwas passiert, das unserer persönlichen Vorstellung von Glück widerspricht, machen wir uns sofort auf die Suche nach einer Person, welcher wir die Schuld daran zuschreiben können. Zählt man nicht zu den Personen, welche mangels Selbstbewusstsein im Zweifelsfall ohnehin gleich alles auf sich nehmen um in fatalistische Gedanken darüber zu verfallen, nicht für Glück geschaffen zu sein, wird so lange nicht locker gelassen bis endlich ein Täter beziehungsweise eine Täterin ausgemacht wird.
Dass bei diesem reflexartigen Zwang einer Ausforschung der Vorwerfbarkeit oft nicht nur viel weiteres Porzellan zerschlagen wird, wird dabei meist übersehen. Es wird wertvolle Zeit und Energie vergeudet, die Geschehnisse zu akzeptieren und sich an eine Verbesserung der Gegebenheiten für eine Gestaltung der Zukunft zu machen. Statt der konstruktiven Aufarbeitung der Vorkommnisse zwecks Schaffung eines stabilen Fundaments für die Zukunft werden einander Vorwürfe und Rechtfertigungen entgegengeschleudert, Fronten verhärten sich. Das hat dann oftmals den Effekt einer Nebelgranate: statt der angestrebten Klarheit stellt sich nämlich eine Entfernung von der Lösung ein. Nicht selten wird nämlich bei diesem neuen Disput über den eigentlichen Konflikt sogar vergessen, worum es eigentlich in der Ausgangsposition gegangen ist. Das Geschehen hat eine Eigendynamik entwickelt, bei welcher die beteiligten Menschen zunehmend gar nicht mehr Herr des weiteren Verlaufes zu sein scheinen. Die Beteiligten haben keinen Konflikt mehr - der Konflikt hat sie.
Das Verschulden mag in der Rechtsordnung eine ganz sinnvolle Komponente darstellen, wenn es darum geht, die subjektive Vorwerfbarkeit der Zufügung eines materiellen Schadens zu prüfen. Da kommen dann manchmal durchaus dem Gerechtigkeitsempfinden der meisten Menschen entsprechende Ergebnisse heraus: mutwillig zerstörte Gegenstände sollen etwa durch den Täter oder die Täterin auch wieder ersetzt werden. Aber selbst in der Anwendung unserer ausgeklügelten Gesetze zeigen sich die Schwierigkeiten, welche der Versuch einer eindeutigen Zurechnung von Schuld an einem vergangenen Ereignis mit sich bringt: wem ist etwa anzulasten, dass eine zwischenmenschliche Beziehung Schaden genommen hat? Und dass selbst in so diffizilen Fällen gefundene Richtersprüche kaum einen Schlusspunkt darzustellen vermögen merkt man, wenn man sich einfach mal einen Tag vor ein Bezirksgericht stellt und die Menschen beobachtet, die da rauskommen: selbst die vermeintlichen Siegerinnen und Sieger machen da in den seltensten Fällen den Eindruck, als wäre für sie die Schuldfrage abschließend geklärt und entsprechend gesühnt.
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Hilfreich in langwierigen Schlammschlachten, bei welchen Schuld zum Konfliktthema geworden ist, ist es meist, wenn die simple Frage in den Raum gestellt wird, was sich denn am eingetretenen Schaden ändert, wenn tatsächlich geklärt werden kann, wer die Schuld trägt. Ist dann die Beziehung wieder in Ordnung? Ist dann die zerbrochene Vase wieder ganz? Ist es dann tatsächlich leichter, die Arbeit an der Reparatur des angeschlagenen Vertrauens oder der beschädigten Gegenständen aufzunehmen?
Interessant ist der Ansatz, den die Bibel hier bietet: um gar nicht erst diesen Irrweg zu gehen und damit zu lange im suchenden Blick in die Vergangenheit zu verharren wird vorgeschlagen, einfach außer Streit zu stellen, dass wir alle mit Schuld behaftet sind: die Erbsünde als gemeinsamer Nenner, welcher gar nicht erst bewiesen werden muss. Interessant, aber auch wieder gefährlich: zu groß ist dann die Versuchung, in fatalistische Selbstaufgabe zu verfallen oder jede Verantwortung abzulegen, weil sie ohnehin nichts ändern könne.
Eine Weiterentwicklung des biblischen Gedankens der Erbsünde ist allerdings oft hilfreich. Bevor über ein empfundenes Unglück die akribische Auseinandersetzung mit der Zuordnung der Vorwerfbarkeit der Geschehnisse ausbricht, sollte zunächst einmal der Blick nach vorne gerichtet werden um zu eruieren: Was braucht es, um den eingetreten Schaden, den ausgelösten Schmerz zunächst unter bewusster Ausklammerung der Frage der Schuld zu bereinigen? Welche Bedürfnisse rufen zukunftsgerichtet nach Berücksichtigung? Statt bei einem hungernden Menschen zum Beispiel sofort danach zu fragen, wem dieser Umstand zur Last zu legen ist - wobei da leicht riskiert würde ob einer hitzigen Diskussion, dass der eingetreten Schaden bis hin zum Verhungern vergrößert wird - könnte als erstes darüber nachgedacht werden, wie es gelingen kann, dieses unbefriedigende Resultat vergangener Taten auszumärzen. Statt der reflexartigen Suche nach Schuld wird der konstruktive Weg der positiven Ausgestaltung der Zukunft gewählt. Damit werden dann drei Fliegen mit einem Schlag getroffen: weiterer Schaden wird unwahrscheinlicher, zum enstandenen Unglück werden Lösungen gefunden und: im konstruktiven Miteinander fällt es leichter, einander um Vergebung zu ersuchen und zu verzeihen.