"Richte nicht, liebe einfach!" Sprüche wie dieser geistern oft auf der Timeline von jenen über den Bildschirm, welche einen Account auf facebook haben und darüber verständigt werden, was denn die auf der Freundesliste enthaltenen Personen gerade beschäftigt. Da wird in zur Schau gestellter grenzenloser Nächstenliebe versucht, aller Welt zu demonstrieren, wie sehr man doch an Werten hängt, die das Miteinander leichter machen. Und an alle zu appellieren: mach es mir nach, sei auch Du dabei. Wobei sich da meist auch sofort sehr große Zustimmung einstellt: "Gefällt mir"-Angaben in Rekordzahl sind hier der Regelfall.
Auch in unseren Kirchen, egal welcher Konfession, werden Erinnerungen an Gebote der Barmherzigkeit und der Einladung an Notleidende von eifrigen Besucherinnen und Besuchern mit einem selbstverständlichen Nicken regelmäßig zur Kenntnis genommen. An Beispielen übertragener Geschichten etwa über das Teilen, die Vergebung und die Freiheit von übelbringenden Urteilen versichert man sich gegenseitig, wie klar es doch sei, dass kein Weg daran vorbeiführen kann, dem vorgezeichneten Ideal des wertschätzenden Umgangs miteinander auch selbst zu entsprechen. Besiegelt durch den per Handschlag weitergereichten Friedensgruß.
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Erstaunlich eigentlich, weshalb Begebenheiten außerhalb dieser beiden exemplarisch genannten Umgebungen oftmals trotz derselben Akteurinnen und Akteure ein genau gegenteiliges Bild bieten. Die geteilten und gegenseitig zugesicherten Werte schillern zwar wunderschön im Sonnenschein der Öffentlichkeit, verlieren aber allzu rasch im Realitätscheck der Begegnung mit dem leistesten Widerstand von reellen Anwendungsmöglichkeiten ihre Form und verflüchtigen sich; Platzen gleichsam einer Seifenblase, die gerade noch in voller Farbenpracht beeindruckt hat. Personen, die in der virtuellen Welt der social media nicht müde werden, lauter gut klingende Spruchbilder zu teilen, verfallen in reelllen Situationen plötzlich in vorurteilsgesteuerte Hasstiraden gegen stigmatisierte Menschengruppen; Menschen, die in ihren Besuchen der heiligen Messe besonders lautstark ihre Glaubenssätze zu skandieren verstehen und bei Liedern über die Bedeutung bedingungsloser Liebe besonders inbrünstig mitsingen, finden bei Konfrontation mit dem Leid anderer Lebewesen plötzlich nur noch Gründe, weshalb keine Hilfe angezeigt ist.
Wie passen diese beiden Welten zusammen? Weshalb verliert Beates virtueller Lebensinhalt der emotionalen Wärme genau dann scheinbar an Bedeutung, wenn über Asylfragen diskutiert wird? Weshalb zeigt der sich glaubensstark präsentierende Franz seine kalte Schulter just dann, wenn es in einem Streit darum geht, wer den ersten Schritt der Versöhnung setzen könnte?
Unsere Gesellschaft hat erkannt, dass Wohlstand, Frieden und persönliches Glück stark davon abhängen, welcher Stellenwert Werten des Miteinanders eingeräumt wird. Daher wird entsprechend einer stillen Übereinkunft gerne ein Bekenntnis dazu abgegeben, bei jeder Gelegenheit. Allerdings wird oftmals verabsäumt, dabei anzuerkennen, dass der Weg von der Theorie zur Umsetzung gerade in diesem Bereich harte Arbeit sein kann. Persönlichkeitsarbeit. Weiterentwicklung, für welche es verschiedener Fertigkeiten bedarf, die leider in keinem Lehrplan unseres Bildungssystems so recht Platz zu finden scheinen. Vielmehr scheint unser Bildungssystem sogar darauf spezialisiert zu sein, gegenteilige Tendenzen zu fördern wenn man bedenkt, dass Kleinkinder eine beispielhafte Offenheit und einen sensationellen Gerechtigkeitssinn haben, welcher ohne nachhaltige Ausgrenzungen auskommt. So groß die Sehnsucht nach Zusammenhalt im vereinten Streben nach Wohlstand, Frieden und persönlichem Glück auch ist, so leichtfertig geht unsere Gesellschaft also damit um, den Worten entsprechende Taten folgen zu lassen. Im Gegenteil bedient sich die Politik leider gerne genau dieser Lücke und versucht oftmals, Unsicherheiten zu bestärken und im Lager der politische Mitbewerber Schuldige zu identifizieren. Solchermaßen werden unsere Grundbedürfnisse zum Spielball, werden unseren Werten entsprechende Lösungen zum Zufallstreffer - was sich verdeutlicht an den dargestellten Parallelwelten.
Unveränderlich? Oder gibt es Möglichkeiten, die gerne in den social media oder im kirchlichen Konnex präsentierten Haltungen in den Alltag praktisch einfließen zu lassen? Jede und jeder Einzelne hat es in der Hand, sich Gedanken zu machen, wie dem derzeit wohl zutreffenden Urteil der gelebten Doppelmoral Einhalt geboten werden kann. Einfach die Weisheiten, mit denen man sich so gerne schmückt, nicht bloß reproduzieren sondern kurz innehalten und über die Bedeutung nachdenken; einen Plan erstellen, wie die wohl klingenden theoretischen Worte zu wirklichen Handlungsratgebern werden können in jenen Situationen unseres Lebens, welche uns mit Angst oder Wut erfüllen. Es ist nicht leicht. Es werden sich auch nicht immer sofort Erfolge einstellen. Es kann auch sein, dass man manchmal belächelt wird dafür, als naiv abgestempelt oder als Gutmensch bezeichnet wird. Doch es geht.