Claudia ist fassungslos. Sie soll vor Gericht. Es wird ihr sogar Freiheitsstrafe angedroht. Ins Gefängnis soll sie – so wie die, die jemanden umgebracht oder etwas gestohlen haben. Wieder und wieder liest sie das Schreiben durch, das sie in ihren zittrigen Händen hält. Nicht nur ihre Hände zittern – ihr ganzer Körper bebt.

Als sie gestern mit ihren Kindern, die sie auf dem Heimweg von der Arbeit wie immer von der schulischen Nachmittagsbetreuung abgeholt hat, zu Hause angekommen ist, fand sie eine Hinterlegungsanzeige im Postkasten. Ein eigenhändig zuzustellendes behördliches Schriftstück sei abzuholen. Ein blauer Brief also. Der Briefträger hat leider so eine Klaue, dass sie nicht entziffern konnte, wer denn da der Absender ist. Und aus der Geschäftszahl wurde sie nicht schlau. Im Internet hatte sie dann ein wenig recherchiert, ob man denn anhand dieser Zahlen- und Buchstabenkombination in der Geschäftszahl etwas ableiten könne. Das hatte sie mal gehört, dass das geht. Und als sie da die ersten Treffer in der Suchmaschine überflog, bekam sie bereits ein mulmiges Gefühl, dass da etwas im Busch ist, das nicht auf die leichte Schulter genommen werden kann: offenbar geht es um eine Strafsache. Sie hat dann ihr Hirn zermartert, was um alles in der Welt man da von ihr wollen könne. Sie ist eigentlich eine sehr gesetzestreue Frau: manche sagen sogar, sie sei zu brav. Mit dem Auto ist sie stets vorsichtig unterwegs und hält sich an alle Vorschriften – auch wenn sie dafür des öfteren schon mal angehupt wird. Auch mit den Nachbarn versteht sie sich gut und ist ihrem Vermieter noch nie einen Cent schuldig geblieben. Ja selbst das Finanzamt hat sie noch nie belogen. In der Arbeit ist sie für ihre Zuverlässigkeit und Freundlichkeit beliebt – ein richtiges Vorbild halt für ihre beiden Kinder, denen sie einfach Vorbild sein will, auch wenn es als verwitwete Alleinerzieherin nicht immer leicht fällt. Vor allem in letzter Zeit nicht, wo sie ständig Angst hat, dass auch ihren Kindern so etwas Schreckliches passieren könnte, wovon man nun unentwegt auf „Fisch und Fleisch“ und in anderen sozialen Plattformen liest.

Sie soll also ins Gefängnis. Gut, so direkt steht das nicht da, aber es wird damit sehr deutlich gedroht. Sie habe davor noch die Gelegenheit, sich zu den Vorwürfen zu äußern bevor Anklage erhoben werde. Weil sie gegen einige Paragraphen, die sie noch nie gehört hat, verstoßen haben soll.

Die drei Tage, die verstreichen bis sie endlich den Termin bei ihrem Rechtsanwalt hat, kommen Claudia wie eine Ewigkeit vor. Was sie da alles im Internet zu den Paragraphen liest, gegen die sie verstoßen haben soll, lässt sie immer mehr verzweifeln. Sie geniert sich, und hat enorme Angst. Was hat sie denn verbrochen, nur weil sie da einen Beitrag geteilt hat, in welchem davor gewarnt wird, dass man auf seine Kinder aktuell noch mehr als sonst aufpassen müsse? Sie hat den Artikel eigentlich gar nicht ganz durchgelesen – aber die Überschrift und das Foto dazu hat sie so angesprochen, dass sie einfach auf „teilen“ klicken musste, um auch alle anderen Eltern zur Wachsamkeit aufzurufen. Nein, natürlich ist sie nicht der Meinung, dass alle Ausländer böse sind und natürlich wünscht sie ihnen nichts Böses – aber woher soll man denn wissen, wer die sind, von denen da dauernd geschrieben wird? Selbst Politiker sprechen ja bereits davon, dass Österreich Gefahr laufe, wieder in einen Bürgerkrieg zu schlittern – was ist denn dann so falsch, dass sie da in der Diskussion jenen beigepflichtet hat, dass man nicht warten dürfe, bis wieder was passiert, sondern die Sache selbst in die Hand nehmen müsse? Es ist doch ihre gottverdammte Pflicht, auf ihre Kinder aufzupassen und sie davor zu bewahren, dass ihnen Schlimmes wiederfährt. Gut, ganz so drastisch hätte sie hier vielleicht nicht werden zu müssen in ihrer Wortwahl – aber die anderen haben doch auch alle so geschrieben und da wollte sie zeigen, dass auch sie diese Ängste teilt und nicht nur ohnmächtig zuschauen will. Wobei sie doch keiner Menschenseele wirklich etwas antun könne – und außerdem waren es doch nur Worte …

Ihr Rechtsanwalt hat sie dann aufgeklärt: Bereits mit dem Teilen, also der Weiterverbreitung, eines Postings kann man einen sogenannte Medieninhaltsdelikt begehen, unter anderem jenen der üblen Nachrede, Beleidigung oder Verhetzung. Es handelt sich dabei um Straftaten, die zum Teil sogar von Amts wegen, also ohne Anzeige, verfolgt werden müssen, um die öffentliche Ordnung, Ruhe und Sicherheit zu gewährleisten. Hier sind in der Tat empfindliche Strafen vorgesehen, wobei der Strafrahmen etwa bei einer Verhetzung vor breiter Öffentlichkeit (davon wird als Faustregel ausgegangen, wenn mehr als 150 Leute erreicht werden) immerhin bis zu 5 Jahre Freiheitsstrafe beträgt. Er werde ihr da aber schon helfen können und sie werde wahrscheinlich mit einem blauen Auge davonkommen. Nein, sie brauche sich keine Gedanken machen, was denn aus den Kindern werde, wenn sie ins Gefängnis muss.

Claudia wird also nochmals Glück haben. Der Rechtsstaat funktioniert – und ist dabei so gut es geht nicht bloß blind auf Sanktionierung aus, sondern weiß den zur Verfügung stehenden Spielraum zu nutzen. Claudia wird jedenfalls in Zukunft drei Mal nachdenken, was sie schreibt oder teilt in den sozialen Netzen.

Würde ein Pranger auch die richtige Dosierung aus Spezial- und Generalprävention darstellen? Oder wurde es dabei nicht vielmehr übers Ziel hinausschießen, wenn die beiden Kinder ihre Mama auf eine Stufe gestellt sehen müssten mit Menschen, die nicht bloß unbedacht oder aus Unbeholfenheit heraus die Grenzen der Wertschätzung anderen Menschen gegenüber missachtet haben, sondern ganz bewusst Angst und Schrecken verbreiten wollen? Whistleblowing und Pranger – etwa in Form eigener Seiten oder auch der diesbezüglichen Hashtags – mögen vordergründig als Mahnung gelten, zu besseren Umgangsformen des Miteinanders zurückzufinden. Verschwiegen oder auch übersehen wird jedoch dabei, dass diese neu verpackten mittelalterlichen Instrumente die Gefahr beinhalten, viele Menschen erst so richtig auf die Seite der Verachtung zu stoßen und in anderen Menschen die Erhabenheit zu fördern, sich als die besseren Menschen durch großzügiges Melden zu etablieren.

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