Kurt sitzt in seinem Stammlokal an einem Tisch im hintersten Winkel. Vor ihm steht seit einer halben Stunde das Bier, das er sich bestellt hat. Unberührt. Die Schaumkrone ist schon lange zusammengefallen. Aus verquollenen Augen ist Kurts Blick ins Leere gerichtet. Nun, es sieht nur so aus, als würde er ins Leere starren: eigentlich hat er viele Bilder vor sich; Bilder aus der Vergangenheit und jene, die für die Zukunft von seinen Träumen, aber auch von seinen Ängsten geformt werden. Die mit den Farben der Hoffnung gemalten Bilder sind dabei jedoch sehr blass und Kurt muss seine letzte Kraft zusammenkratzen, wenn er sie noch erkennen möchte.
Es sind zwei Frauen, welche er da vor seinem geistigen Auge sieht: seine zwölfjährige Prinzessin Anna, die er von Herzen liebt und mit der er so viele tolle Erlebnisse haben durfte: das erste Mal baden gleich im Kreißsaal, die ersten Löffeln Brei, die ersten Schritte an seiner Hand, das erste mal "Papa" aus ihrem Mund, die ersten Schwimmstunden, der erste Tag im Kindergarten .... Und Sonja, jene Frau, von der er einst glaubte, mit ihr alt werden zu können. Eigentlich dachte er, er würde eines fernen Tages mit ihr weißhaarig auf einer Parkbank sitzen, händchenhaltend, und über die gemeinsamen Erlebnisse lachen.
Doch dann kam dieser Tag, an dem er wusste, dass sie es auch so gemeint hat als sie immer wieder sagte, es gehe so nicht weiter. Er fühlt immer noch, wie er gleichsam ins Bodenlose stürzt, wenn er daran denkt, wie schlimm diese Stille war, als er an jenem Freitagabend von der Arbeit kommend den Wohnungsschlüssel umdrehte und ihm weder der Geruch frisch zubereiteten Essens entgegenströmte, noch das freudige Trippeln der ihm entgegenlaufenden Anna zu hören war. Sie war weg und hatte Anna mitgenommen. Auch alle Kästen waren leer und im Kinderzimmer konnte er nur noch auf die kahlen Wände sehen.
Was war nur passiert? Hatte er nicht immer alles gegeben? Wieso durfte er nun nicht einmal mehr seine Tochter sehen? "Es bricht mir beim Gedanken daran, dass Anna alleine bei Dir sein muss, vor Sorge das Herz" hört er ihre Stimme noch sagen, als der Richter fragte, ob es denn eine einvernehmliche Regelung des Umgangs geben könne. "Außerdem will Anna eh auch nicht zu ihm, ich kann sie ja nicht zwingen." Anna will nicht mehr zu ihm? Zu ihrem Papa? Aber er war doch immer ihr Idol, sie braucht ihn doch! Und dann hat der Richter etwas erzählt von Gutachten, Anhörung und verschiedenen Paragraphen. Vielleicht waren es ja auch die Paragraphen, die alles schlimmer gemacht haben: seit er damals im Scheidungsprozess auf seinen Anwalt gehört hatte, der ihm mit einigen ihm unverständlichen Präzedenzfällen zum vermeintlichen Sieg verholfen hat wegen "boswilligen Verlassens der ehelichen Gemeinschaft" oder so ist ja alles erst so richtig losgegangen.
So wie Kurt geht es in diesem Moment, wo Sie diesen Artikel lesen, allein im deutschsprachigen Raum abertausenden von Männern. Vätern, die sich rechtlos sehen, absolut ohmächtig, und irgendwo zwischen Resignation und Kampfeslust taumeln. Gleichzeitig sitzen ebensoviele Frauen bei ihren Kindern: mit der ab und an durchbrechenden unbewussten Gewissheit, dass die Kinder doch auch den Papa brauchen, gleichzeitig aber vom Umfeld darin bestärkt, dass es die mütterliche Pflicht sei, für das gemeinsame Kind einen Abwehrkampf gegen den Mann zu führen, mit dem der eigene Traum vom Familienglück unmöglich geworden war. Frei nach dem Motto: wie soll er für das Kind gut sein, wenn er für sie nicht gut ist? Und schließlich die vielen, vielen tausend Kinder, die statt der Sicherheit und Geborgenheit, die sie dringend brauchen, um all ihre Talente im Heranwachsen entfalten zu können, die für ein Kinderherz unlösbare Fragestellung in das Zentrum ihres Lebens geworfen bekommen, ob sie denn Mama und Papa weiterhin brauchen und lieben dürfen, so wie sie es eigentlich wollen - oder ob es Mama vielleicht weh tut, wenn sie Papa weiterhin lieben und das auch zugeben.
Kinderrechte bekommen gerade dann, wenn das Leben der Erwachsenen kompliziert wird und die Ebene als Paar zerbricht, eine besondere Bedeutung. Es reicht allerdings nicht, wenn wir in Paragraphen formulieren, was Kindern selbstverständlich zu bieten ist wie Gewaltfreiheit, Bedürfnisorientierung, altersgerechte Förderung oder dergleichen. Es ist auch wenig sinnvoll, darüber zu diskutieren, ob die Familiengerichte und Jugendämter die UN-Kinderrechtskonvention direkt zu berücksichtigen und zu vollziehen hätten. Oder welches Modell nun Standard sein soll. Verantwortung dafür, dass Eltern, welche in ihrer Beziehung als Liebespaar gescheitert sind, dennoch eine gemeinsame Elternebene zustandebringen und damit den theoretischen Begriff des Kindeswohles mit Leben befüllen, tragen eigentlich immer die Eltern selbst. Auch nach einer Scheidung. Sieht es so aus, als würden sie es aus verständlicher Emotion im Zuge der Scheidungswehen heraus nicht schaffen, so dürfen wir als Gesellschaft die Verantwortung für die angezeigte Hilfe und Unterstützung dieser wankenden Familie nicht allein auf die Gerichte abschieben: wir alle tragen sie! Hören wir auf, in Stereotypen ständig einer Seite die Schuld zuzuschieben und die andere in einem auf dem Rücken der Kinder ausgetragenen Krieg zu unterstützen bei der weiteren Eskalation. Für viele mag es bereits zu spät sein, doch für uns als Gesellschaft soll dies kein Hindernis sein, wenigstens einen späten Kurswechsel vorzunehmen. Packen wirs an - stehen wir den Kindern bei, indem wir von Eltern, nicht ohne zugleich gereichte Hand der Unterstützung, einmahnen, ihre Elternrolle niemals zu vergessen.