Um mit Konflikten besser umgehen zu können, gilt es zunächst einmal, das Entstehen, die Erscheinungformen und die Dynamik dahinter zu erkennen. Mit einer Artikelserie (erster, zweiter und dritter Teil sind bereits erschienen) soll jenen Leserinnen und Lesern, die schon mal darunter gelitten haben, im Streit mit an sich geschätzten Menschen hängen zu bleiben, ein kleiner Einblick gegeben werden in die diesbezüglichen Erkenntnisse. Dies kann bereits helfen, sich herauszunehmen aus unangenehmen Auseinandersetzungen und wieder zum Pfad eines konstruktiven Miteinanders zurückzufinden statt sinnloser Verletzungen, die am Ende des Tages keinem helfen. Das Gefühl, nach einer heftigen Auseinandersetzung im darauf folgenden nächsten Moment der Ruhe keine Antwort auf die Frage zu haben, wozu denn die eigene Aufregung und der darauffolgende Angriff wieder gut gewesen sein sollen, wird sich vielleicht auch mit diesem Wissen nicht gänzlich vermeiden lassen. Es wird allerdings etwas leichter, die zur Versöhnung angebotene Hand bei der nächsten Begegnung nicht als eigenen Gesichtsverlust sehen zu müssen. Was man begreifen kann, lässt sich leichter in den Griff bekommen.
Das Modell des Konfliktwürfels des von mir sehr geschätzten Michael Wandrey, den ich in meiner Ausbildung auch persönlich kennenlernen durfte, bietet eine hervorragende Zusammenfassung der wesentlichsten Züge eines Konfliktes. Dies erscheint somit eine gute Zusammenfassung der bisher vorgestellten Bausteine eines eskalierenden Streits zu sein, bei welcher auch die Zusammenhänge der einzelnen Elemente erahnbar werden. Konflikte sind, wie auch ein Würfel, mehrdimensional in ihrer Erscheinungsform und der daraus erwachsenden Dynamik. Da wie dort ist es erforderlich, für ein Erfassen aller Seiten verschiedene Perspektiven einzunehmen, um sein Wesen weitestmöglich zu erfassen und es bedarf auch gezielter Anstöße von außen, um verdeckte Seiten zu erhellen. Wandrey streicht hier 4 Blickwinkel hervor, deren Beachtung sich bewährt hat: Konfliktumfeld, Konfliktausmaß, Konfliktinhalt und Konfliktgestalt.
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Konfliktumfeld
Befindet man sich in einem Streit, welcher einen nicht mehr loszulassen scheint, so ist es von wesentlicher Bedeutung, zunächst einmal abzuklären, welche Rolle man hier eingenommen hat: geht es hier wirklich um eigene Bedürfnisse und Interessen, zu denen man es auch selbst in der Hand hat, ihnen zur Erfüllung zu verhelfen, so kann man sich als Besitzerin beziehungsweise Besitzer des Konfliktes betrachten. Etwas komplexer wird die Sache, wenn man bloß Teilhaberin beziehungsweise Teilhaber ist, also für die Durchsetzung des eigenen Wollens auf die Mitwirkung anderer Personen oder Institutionen angewiesen ist. Handelt es sich bei einem Disput um einen solchen, zu welchem jederzeit die Beteiligten ausgetauscht werden könnten ohne dabei am Inhalt etwas zu verändern, so spricht man schließlich von einem Stellvertreterkonflikt: diese sind häufig im vermeintlich anonymen Umfeld von social media oder auch in politischen Auseinandersetzungen anzutreffen.
Für die Bewertung des Konfliktumfeldes bedeutsam sind auch der Schauplatz des Geschehens (öffentlich, halböffentlich oder privat), die Intensität des Kontaktes der Konfliktparteien – so macht es einen Unterschied, ob man sich ständig über den Weg läuft, sich nur sporadisch trifft oder ob man ohnehin nur über Dritte im Kontakt steht – sowie die Motivation, am Konfliktgeschehen etwas zum Konstruktiven zu verändern: besteht hier eine Eigeninitiative, so wird die nachhaltige Erfolgsaussicht wesentlich höher sein als wenn lediglich Nachteile vermieden werden sollen infolge sozialen oder institutionellen Drucks zur Rückkehr auf einen konstruktiven Pfad des wertschätzenden Miteinanders.
Konfliktausmaß
Das Konfliktausmaß kann in Höhe, Breite und Tiefe betrachtet werden. Unter Höhe wird dabei verstanden, dass der Fokus auf das bereits eingetretene Ausmaß der Eskalation gelegt wird: während bei geringer Höhe noch von Strategien ausgegangen werden kann, bei welchen „leben und leben lassen“ Devise zu sein scheint, geht es bei zunehmender Eskalation und somit Höhe immer stärker darum, Verliererinnen und Verlierer zu erzeugen – bis hin zur Bereitschaft, auf Gewinn auf beiden Seiten gänzlich verzichten zu können. Gradmesser für die Konfliktbreite ist die Komplexität des Konfliktgeschehens: wie viele Themen sind betroffen, wie viele Personen beteiligt, wie lange dauert das Konfliktgeschehen bereits an und welche Weichen werden dabei auch für die Zukunft gestellt hinsichtlich der Auswirkungen. Es ist wohl unschwer zu erkennen, dass bei zunehmender Konfliktbreite wesentlich höhere Anforderungen an alle Beteiligten bestehen, zur Konstruktivität zurückzufinden.
Bei der Konflikttiefe geht es darum, zu ergründen, wie tief sich die Beteiligten in ihrem Selbstwertgefühl und ihrer Emotionalität verstrickt fühlen durch das Geschehen. Während bei einer geringen Tiefe nur Irritationen auftreten, die es noch ermöglichen, die Sichtweise einzunehmen, dass aus dem Konflikt durchaus auch neue Erfahrungen mitgenommen werden können, die einem selbst für die Persönlichkeitsentwicklung nützlich sein werden, werden bei größerer Tiefe zunehmend individuelle Schutzmechanismen in Form von Konfliktlösungsmustern aktiviert: man sieht sich als Opfer, welches sich wehrend muss oder erlangt schließlich sogar die Überzeugung, das Gegenüber stelle „das personifizierte Böse“ dar, welches einen vernichten möchte, weshalb es seinerseits vernichtet werden muss.
Konfliktinhalt
Wie auch in den Gesetzmäßigkeiten von Kommunikation im Allgemeinen, gilt es in Konflikten darauf zu achten, die verschiedenen Ebenen, die in Botschaften stecken können, auseinanderzuhalten. In jeder einzelnen Botschaft können so etwa mindestens 4 Ebenen enthalten sein, die unterschiedlich gemeint und zu allem Überfluss auch noch unterschiedlich aufgefasst werden können von den Empfängerinnen und Empfängern. Daraus können sich Ebenen eines Konfliktes herauskristallisieren, die es auseinanderzuhalten gibt, möchte man eine Klärung begünstigen. Fragen wie „Was ist vorgefallen?“ (Sachaspekt), „Wie ging es mir dabei? (Selbstkundgabe), „Wie fühle ich mich behandelt?“ (Beziehungsseite) und „Was soll sich ändern?“ (Appellebene) können hier gute Dienste leisten und die Klarheit in den Ablauf bringen, derer es bedarf für eine Deeskalation des Geschehens.
Der Konfliktinhalt kann auch entsprechend vorstellbaren verhandelbaren Themenbereichen sortiert werden: Besemer nennt dazu etwa die Auseinandersetzung über Sachverhalte (unterschiedliche Beurteilungen, die kategorisiert werden können in „richtig“ und „falsch“), über Interessensgegensätze (subjektiv empfundene Beeinträchtigungen durch das Gegenüber), über Beziehungs- und Rollengestaltung (wechselseitige Verhaltsenserwartungen), über Werte und Normen (Glauben, Lebensstil, Geschmack, politische Ansichten) oder über Strukturen (Normen, welche alle Beteiligten gleichermaßen unterworfen sind).
Beim Konfliktinhalt ist darauf zu achten, dass alle Beteiligten den selbstverständlichen Anspruch auf ihre Individualität haben. Bereits entstandene irreparable Schädigungen, frustrierte Anstrengungen oder zugefügte seelische Verletzungen können so nicht einfach übergangen werden, sondern müssen eine entsprechende Würdigung erfahren, soll eine nachhaltig zielführende Auseinandersetzung mit Lösungen zum Inhalt des Konfliktes ermöglicht werden.
Konfliktgestalt
Unter der Überschrift der Konfliktgestalt wird die Betrachtung des Stils, in welchem die Beteiligten den Konflikt führen, zusammengefasst. So wird etwa zu beobachten sein, wie es um die Handlungsfähigkeit der Konfliktparteien bestellt ist: steht bereits eine Seite sprichwörtlich an der Wand und sieht keinen Ausweg mehr? Von nicht zu unterschätzender Bedeutung sind auch die bestehenden Machtstrukturen zwischen den Beteiligten: es macht einen enormen Unterschied, ob sich eine Seite in allen Belangen überlegen ansieht, lediglich in moralischen Belangen auf der „guten Seite“, sonst aber unterlegen, ebenbürtig oder schließlich unterlegen empfindet.
Im nächsten Artikel wird es einen Überblick über die verschiedenen Möglichkeiten geben, Konflikten den Schrecken zu nehmen und sie vielmehr als Chance wahrzunehmen. Bis dorthin: Viel Erfolg beim Auffinden von persönlichen Möglichkeiten, Konflikten die Giftzähne zu ziehen und eine beobachtete Eskalationsspirale rechtzeitig – nötigenfalls mit professioneller Hilfe – zu stoppen!