Im Mittelmeer liegt eine Insel, welche mit einer der höchsten Durchschnittstemperaturen Europas wohl der Inbegriff sonnenhungriger Urlauberinnen und Urlauber ist. Selbst im Februar misst das Thermometer hier angenehme 15 Grad. Ein Teil der Küste wurde unter Naturschutz gestellt, da die vom Aussterben bedrohte Karettschildkröte dieses Fleckchen Erde für ihre Eiablage auserwählt hat. Auch kulturell wird hier einiges geboten: immerhin hat der Lauf der Geschichte es zuwege gebracht, griechische, römische, byzantinische und arabische Einflüsse zu vermengen.
Kein Wunder daher, dass neben der Fischerei eine der Haupteinnahmequellen der Bewohnerinnen und Bewohner der Tourismus ist. Es klingt ja auch sehr idyllisch und nach einer Gelegenheit, durch einen dortigen Aufenthalt einen gelungenen Tapetenwechsel von den Sorgen des Alltags vollziehen zu können. Der Mensch hat diesem Ort aber auch eine andere Bedeutung gegeben. Dass durch maßlose Rodungen die Natur so weit ausgebeutet wurde, dass das Landesinnere verödet ist, ist dabei ja leider schon so bezeichnend für viel zu viele Urlaubsdestinationen, dass es die wenigsten noch erschüttert. Dass jedoch vor diesen unter Naturschutz stehenden Küsten einerseits die Karettschilödkröte geschützt wird vorm Aussterben, andererseits aber zugelassen wird, dass tausende Menschen sterben, macht Lampedusa zu einem Sinnbild für eine Verödung nicht nur des Landesinneren des Eilands, sondern auch unserer Bereitschaft für das eigentlich selbstverständliche: einer Solidarität mit dem Leben.
Lampedusa wurde zum Inbegriff dessen, wie hilflos unsere Gesellschaft agiert, wenn sie konfrontiert wird mit der unvorstellbaren Aussichtslosigkeit jener Menschen, die all ihre Hoffnung darauf setzen, im vielgepriesenen Kontinent Europa eine neue Chance zu erhalten. Ganze Großfamilien und Dorfgemeinschaften legen ihre Hoffnung und auch ihr letztes noch verfügbares Hab und Gut zusammen, um einen der Ihren jenen Menschen anzuvertrauen, die versprechen, eine Reise in die versprochenen Perspektiven zu organisieren. Dass es sich dabei um organisierte Schlepper handeln könnte, die nur auf eigenen Profit aus sind und obendrein vielleicht sogar selbst am Zielort nur die Ausbeutung der Anvertrauten planen, diese Gefahr wird ausgeblendet. Zu sehr wird an der Hoffnung festgehalten, dass dies die einzige Chance ist auf etwas, das für uns zu selbstverständlich scheint: eine Chance darauf, Zugang zu Bildung zu erhalten; eine Chance darauf, genug Geld zu verdienen nicht für ein neues Auto oder einen eigenen Pool im Garten, nein: um sich und der Familie Essen und sauberes Wasser kaufen zu können auch in Dürrezeiten; eine Chance darauf, eine eigene Meinung haben zu dürfen, die nicht deckungsgleich sein muss mit jenen, die auch Waffengewalt zur Durchsetzung meist ungeschriebener Regeln einzusetzen gewillt sind und "mundtot" machen gleich mit der Auslöschung des Lebens gleichstellen; eine Chance darauf, medizinische Versorgung zu erhalten in Krankheit; eine Chance darauf, sie sein zu dürfen und dabei die Zuversicht zu erlangen, es auch wert zu sein.
Lampedusa zeigt uns dabei, wie sehr wir geprägt sind von Angst vor allem Fremden; wie sehr wir von Unsicherheit getragen sind; wie sehr wir vergessen haben, dass erst vor 70 Jahren wir und unsere Ahnen es waren, die von solchen Existenzängsten geplagt waren, dass es unvorstellbar schien, in unserer geliebten Heimat all das vorzufinden, was wir zum Überleben brauchten. Anders ist es nicht zu erklären, dass die Innenministerinnen und Innenminister Europas ihre Hauptaufgabe in der Abwehr der Flüchtlinge sehen und in der Innenpolitik auch immer wieder Stimmen laut werden, die davor warnen, dass es wir es uns nicht leisten könnten, Quartier und Zukunft anzubieten.
Schauen wir diesen Menschen in die Augen, die vor Lampedusa vollkommen erschöpft und doch voll Hoffnung landen; jenen Menschen, die den Überlebenskampf der Flucht gewonnen haben und auch nicht Opfer der Geldgier der Schlepper wurden. Nein, das sind zu diesem Zeitpunkt keine Verbrecher; nein, das sind keine Menschen, die uns zu diesem Zeitpunkt auch nur irgendwas wegnehmen wollen. Ganz im Gegenteil: zu diesem Zeitpunkt sind sie zu allem bereit, um nur diese Chance zu erhalten auf das, was für uns heute viel zu selbstverständlich geworden ist über die Jahrzehnte. Sie sind dankbar für jede helfende Hand - Wegweisung und Missachtung ihres Strebens nach Selbstbestimmung und persönlichem Glück haben sie bereits genug erleben müssen.
Übersehen wir nicht: Lampedusa ist für uns auch das Symbol einer Chance; einer Chance für uns. Nein, eine halbherzige Aufnahme bei gleichzeitiger Verwehrung der Integration in unsere Gesellschaft ist damit nicht gemeint; ebensowenig die Definition eines Ghettos in Form eines Asylstreifens, welcher den Flüchtlingen großzügiger Weise angeboten wird. Vielmehr wäre es für uns eine Chance, wenn wir diese Menschen in offiziellen Programmen mit transparenter Darstellung der bei uns auffindbaren Möglichkeiten und Rahmenbedingungen willkommen heißen würden; wenn wir diesen Menschen all diese Chancen bieten würden, die sie suchen. Es müsste keine Schlepperbanden mehr geben, wenn vor Ort ehrliche Informationen angeboten würden samt offiziell organisierter sicherer Reisen in für beide Seiten tragbarer Anzahl. Mit gestärktem Selbstbewusstsein, mit erworbener Bildung und vielen neuen Freundschaften werden diese Menschen dann ohnehin eines Tages dem Ruf ihres Herzens folgen und, wie auch unzählige unserer Vorfahren, denen die Flucht in den für uns schwierigen Zeiten der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts gelungen war, zahlreich wieder nach Hause zurückkehren. Das wäre weit mehr wert als jeder Euro, den wir als Almosen über Institutionen nach Afrika schicken. Und es könnte uns weit mehr geben als dieses kurze Gefühl der Erleichterung von schlechtem Gewissen und weggeschobener Verantwortung, wenn die Überweisung der Spende getätigt wurde, die ohnehin wieder von der Steuer abgesetzt und somit von der Allgemeinheit getragen wird. Dieser Weg gäbe uns die Chance, an etwas Großartigem Teilhaben zu dürfen: am Aufbau Afrikas und seiner Menschen, von denen ja auch wir so viel lernen können. Auch wirtschaftlich würde dieser Weg sehr rasch Früchte tragen, die wir gemeinsam ernten könnten, denn Afrika hat einen in seiner Größe nicht zu unterschätzenden Markt, den unsere Unternehmen erschließen könnten. Reichen wir daher den Menschen die Hand - aus menschlichen, aber auch durchaus aus wirtschaftlichen Überlegungen heraus. Hören wir auf, ständig nur in Büros über Entschuldungen und andere als Entwicklungszusammenarbeit verkaufbare Maßnahmen zu diskutieren, beginnen wir, den Menschen Afrikas entgegenzukommen. Es spricht viel dafür, dass Wirtschaft sich wie Freude verhält - und Freude wird bekanntermaßen nicht weniger, wenn man sie teilt.