Regeln sind wohl etwas, wozu viele Menschen ein höchst ambivalentes Verhältnis haben: in zahlreichen Situationen ruft man nach ihnen wie nach einem Bissen Brot und weiß manchmal gar nicht, wie man ohne sie auskommen kann; bei anderer Gelegenheit wettert man wiederum gegen sie als einen Eingriff in die Eigenverantwortung und ist bereit, für ihre Beseitigung auf die Barrikaden zu steigen. Woran liegt das nur und wie kann man damit im Kleinen - etwa in der Familie - oder im Großen, also in der Gesellschaft, umgehen?
Eine mögliche plakative Annäherung an das Thema kann von einer Seite erfolgen, zu welcher wohl jeder im mitteleuropäischen Kulturkreis über viel eigene Erfahrung verfügt, die man sich jetzt in Erinnerung rufen kann: Brettspiele. Nahezu jeder hat sie schon gespielt und kann berichten, welche Regeln es dabei zu beachten gilt. Das spannende daran: kaum jemand hat bei Spielen wie "Mensch ärgere Dich nicht" auch tatsächlich schon einmal die beigepackte Spielanleitung gelesen. Statt dessen findet vor dem Spielstart in der Spielrunde eine kurze Abstimmung statt: unter welchen Voraussetzungen etwa ermittelt werden soll, wer beginnen darf, wird frei vereinbart. Auch die Regeln für die Bedingungen, unter welchen eine Spielfigur auf das Startfeld gestellt werden darf (nur wenn man "Sechs" gewürfelt hat nach ein oder auch drei Versuchen oder doch großzügiger?) oder ein allfälliger Zwang, die Figur eines anderen Spielers rauszuwerfen, wenn dies möglich ist bei sonstiger Sanktion des Verlusts der eigenen Spielfigur sowie Tabufelder, an denen man gegen einen Rauswurf geschützt ist, werden kurz abgesprochen. Manchmal wird hier sogar über die Bereitschaft zur Abänderung der Regeln noch während des Spielverlaufes berichtet. Wenngleich solche Spiele in manchen Menschen Reaktionen auslösen können bis hin zum Zerreißen der Kartonspielvorlage ist doch kaum zu beobachten, dass die Regeln als Auslöser für die emotionalen Ausbrüche benannt werden. Die Regeln stoßen eigentlich immer auf Akzeptanz.
Anders ist dies, wenn Menschen mit Regeln und deren Auswirkungen konfrontiert werden, zu denen einer einzelnen Person oder "denen da oben" die Urheberschaft zugeschrieben wird. Die Verärgerung über den Strafzettel für das Falschparken wird hirnrissigen Verordnungen und wahnwitzigen Strafbemessungen zugeschrieben statt sich selbst bei der Nase zu packen, halt das Risiko bei einem selbst zu verantwortenden Regelverstoß unterschätzt zu haben. Oder auch in der Familie führt es oft dazu, dass der Hausfrieden wieder mal schief hängt, wenn von einer Person ohne Absprache über die gemeinsame Zeit am Wochenende verfügt wird. Diesen beiden eher harmlosen Beispielen gemein ist, dass hier Regeln und Entscheidungen als ein Eingriff in die Freiheit und Selbstbestimmtheit der Menschen empfunden werden.
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Dieser Eingriff löst in vielen Menschen Unbehagen aus und je mehr sie damit eigene Wünsche, Bedürfnisse und Ziele in Gefahr sehen, umso heftiger wird die Reaktion ausfallen. Paradoxer Weise sind diese Reaktionen allerdings zum Teil noch eine Steigerung der Entfernung von Freiheit und Selbstbestimmung: denn in zahlreichen Fällen berichten Personen, die solchermaßen schon mal auf den Barrikaden gestanden sind, dass sie ja eigentlich die Entscheidung, welche sie so aus der Bahn geworfen hat, ohnehin selbst auch sehr gut verstehen können und vielleicht sogar, wenn man sie gefragt hätte, zum selben Schluss gekommen wären. Doch man hat sie nicht gefragt, man ist über sie drübergefahren. Daher die Reaktion, die manches nur noch schlimmer gemacht hat.
Regeln werden also dann als etwas akzeptables und sogar Sicherheit spendendes empfunden, wenn ein gewisses Maß an Gelegenheit zur Mitwirkung an ihnen bestanden hat. Partizipation im Kleinen also, indem auch in herausfordernden Situationen selbst an Lösungen mitgewirkt wird statt die Kommunikation vollends zu verweigern oder gar die Entscheidung einem Gericht zu übertragen; oder im Großen, wenn Gesetze und Verordnungen in transparenten Abläufen erlassen werden, in denen alle, die sich betroffen fühlen, Gehör finden können. Auch Regeln müssen also in Wertschätzung des Individuums zustandekommen, um dessen Akzeptanz genießen zu können. Und dann werden sie auch nicht als Einschränkung der Freiheit zur Selbstbestimmung wahrgenommen werden - sondern als Sicherheit spendender Rahmen eben dieser Entfaltung in Selbstbestimmung, welcher sie ebenfalls zu sein vermögen.