Die meisten Menschen kennen es aus eigener Erfahrung, dass Erlebnisse und Informationen, die einen emotional berühren, lange noch nachwirken. Dass damit also Stunden, Tage oder auch Jahre später noch eigene Entscheidungen durch sie beeinflusst werden, weil sie die eigene Sicht auf die Dinge verändern: also gleichsam als Filter, schlimmer noch als Scheuklappen, wirken.
Nehmen wir zum Beispiel die Begebenheit von Kurt auf seiner Autofahrt durch eine ihm davor unbekannte Stadt. Alles ist anders: die Straßenmarkierungen, das Verhalten der anderen Verkehrsteilnehmer… Und außerdem macht ihn die ansonsten kaum beachtete Stimme des Navigationsgerätes narrisch, da die Anweisungen ihn nur noch zusätzlich in seiner Konzentration irritieren. Plötzlich muss er abrupt bremsen, um einen Unfall zu vermeiden mit einem anderen Fahrzeug, welches sich hupend vor ihm hereinschneidet. Kurt tobt. Das hat er gerade noch gebraucht. Noch Minuten später schafft er es kaum, sich zu beruhigen. Seine neben ihm sitzende Partnerin getraut sich gar nicht, ihn darauf hinzuweisen, dass Kurt übersehen hatte, dass sich seine Fahrbahn verjüngt hat und somit dieser hupende Einheimische wohl eigentlich im Recht war. Die Stimmung zwischen den beiden ist nun auch länger getrübt. Und noch Jahre später wird Kurt davon zu erzählen wissen, wie schlimm es doch ist, mit dem eigenen Auto in jene Stadt zu reisen. Wobei in seiner Partnerin dabei dann auch immer noch dieses unbehagliche Gefühl aufsteigt.
Ähnlich ist es mit Nachrichten, die einen emotional bewegen: Der 11. September zum Beispiel wird für unzählige Menschen noch lange für Entsetzen stehen, für Ohnmacht, Wut und Fassungslosigkeit. Nüchtern betrachtet steht er auch für die genutzte Gelegenheit, den Traum von Geheimdiensten zu verwirklichen, indem tief in das Grundrecht der Freiheit der Bürgerinnen und Bürger der USA eingegriffen wurde mit dem Patriot Act: die Bereitschaft der Menschen, Freiheiten für versprochene Sicherheit aufzugeben war da. Und wurde auch angenommen – im Namen des Volkes, das schier darum ersucht hat. Der Preis wurde bezahlt. Gewalttaten bestimmen allerdings unverändert den Alltag in den USA. Auch wenn Schießereien an Universitäten, in Schulen und Kindergärten, in Kaufhäusern und auf offener Straße weiterhin viel zu viele Angehörige in tiefe Trauer um die Opfer stürzen, so scheint es doch wieder als auch vor dem 11. September hingenommene Normalität akzeptiert zu werden. Halt mit weniger Freiheit.
Momentan vergeht in Europa kaum ein Tag, an welchem nicht mit einer erschreckenden Detailliertheit von bestialischen Gewaltverbrechen berichtet wird. Obwohl Gewaltverbrechen an sich zur traurigen Realität des Alltags gehören, schaffen es diese Berichte, starke Emotionen hervorzurufen. Was alleine in Österreich etwa im Jahr 2015 135 angezeigte vorsätzliche Tötungsdelikte (ein Plus von 26,2 Prozent gegenüber dem Jahr 2014), 37.822 zur Anzeige gebrachte vorsätzliche Körperverletzungsdelikte und 2.376 Anzeigen wegen Delikten gegen die sexuelle Integrität, so gesehen also mehr als 110 zur Anzeige gebrachte gegen die körperliche Unversehrtheit gerichtete Verbrechen pro Tag, nicht geschafft haben, das schaffen die aktuellen Berichte. Weil jeweils ein Motiv dazu genannt wird – ein Motiv, das in der Geschichte schon oft als Freibrief für Vergeltungsschläge, Restriktionen in der Freiheit der Menschen und Kriege herhalten konnte: der Glaube. 110 Verbrechen am Tag sind also traurige Realität, die zu einem Schulterzucken führen und einen ohne tiefergehende Anteilnahme weiterblättern lassen zum Sportteil der Tageszeitung. Diese Verbrechen, von denen berichtet wird, dass sie nun jene Realität sind, welche von einigen lange prophezeit wurden als Krieg des Islam gegen die europäische Kultur, lassen allerdings kaum jemanden aus ihrem Bann.
Wie kommt es? Weil nach einem Jahr der entsprechenden Prophezeiungen nun tatsächlich Fälle genannt werden können? Fälle mit ausführlichen Beschreibungen, auf die ansonsten aus Pietät gegenüber den Hinterbliebenen verzichtet wird und die keinen unberührt lassen? Weil die ständigen Prophezeiungen es geschafft haben, die Menschen emotional zu treffen – und somit einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen, welcher nun Programme im menschlichen Hirn aktiviert, welche nun den Beweis für die eigentlich rational wegargumentierte Gefahr erkennen und nur noch als einzig vernünftigen Schluss zulassen, gegen die genannte Gefahr um jeden Preis anzukämpfen?
110 angezeigte Verbrechen gegen die körperliche Unversehrtheit pro Tag alleine in Österreich haben also außerhalb des Kreises der Angehörigen der Opfer und der Opfer selbst kaum jemanden nachhaltig erschüttert. Die erschreckenden Greueltaten der letzten Tage von Personen, denen ein Hintergrund zugeschrieben wird mit islamischen oder aslyrechtlichem Bezug, lassen allerdings große Teile der Gesellschaft unruhig werden und nach sofortigen Maßnahmen rufen.
Man darf gespannt sein, wie das nun weitergeht. Vor dem Hintergrund, dass ausreichend emotionale Anker in der Bevölkerung gesetzt wurden. Wohin es führt, Menschen zwar ins Land zu winken, ihnen dann aber jede Form der Leistungserbringung, um zu wertvollen Mitgliedern der Gesellschaft aufsteigen zu können, zu untersagen. Mehr noch: sie unentwegt wissen zu lassen, dass sie ohnehin nur Terror ins Land bringen. Dass man Angst vor ihnen haben muss. Wird auch in Europa nun ein großes Gesetzespaket zur rigorosen Beschneidung der Freiheiten von Menschen bejubelt werden als richtige Antwort auf das Versagen, Menschen zwar Hereinzuwinken, ihnen Integration abzuverlangen, ihnen aber dann keine echte Chance dazu zu geben? Erste Schritte sind ja schon erkennbar: da ja die den Asylwerberinnen und Asylwerbern gewährten Sozialleistungen ausreichend Neid hervorgerufen haben, wird auch gleich die Bedarfsorientierte Mindestsicherung als Gesamtes nach unten nivelliert.