Von der Ohnmacht beim Lesen einer Zeitung in unserer Demokratie

Kurt nimmt einen weiteren Schluck von seinem Kaffee und blättert durch die Tageszeitung. Die Politikseiten sind wieder einmal voll von Widersprüchen. Da jubeln die einen über Rekordbeschäftigung, während die anderen Schuldige für die hohe Arbeitslosigkeit suchen; da zeigen sich einige erfreut über die wieder sinkende Inflation, während die anderen sich fragen, wie denn bitte die Inflationsrate bemessen wird, wenn der tägliche Einkauf im Supermarkt unentwegt spürbar teurer wird. Da führen einige die wieder einmal auf einem Rekordtief angekommenen Zahlen an Verkehrstoten auf die getroffenen Maßnahmen zurück, während ein paar Seiten später im Chronikteil der Tageszeitung schreckliche Fotos eines Unfalls auf der Autobahn nur wenige Kilometer von Kurts Zuhause entfernt zu sehen sind. Was kann man denn nun glauben?

Und in der Politik streiten sie wieder einmal: eigentlich eh schon normal. Worum geht´s denn diesmal - ach, eigentlich eh egal. Kurt möchte an seinen Blutdruck denken. Wieso wird da eigentlich ständig gestritten, statt einmal die Dinge beim Namen zu benennen und endlich Maßnahmen zu setzen? Und über welche Themen da gestritten wird! Da, schon wieder ein Artikel über dieses Binnen-I. So lächerlich ein Großbuchstabe mitten im Wort aussieht, so überflüssig ist für Kurt auch die ganze dazugehörende Diskussion. Kein Mensch käme auf die Idee, den Einkauf von Äpfeln und Erdäpfeln als die Beschaffung von ErdÄpfeln abzukürzen; weshalb will man das dann unbedingt bei Männern und Frauen machen, diese gewaltsame sprachliche Verkürzung? So viel Zeit wird man doch auch noch haben, dass sie reicht, um Männer und Frauen voll ausgesprochen anzusprechen, wenn man Menschen beiderlei Geschlechts meint.

Einen Tag nur sollten sie ihn an die Macht lassen - alles würde er ändern. Vor allem endlich mal für Gerechtigkeit sorgen. Eine Steuerreform zum Beispiel gehört her, denn das kann doch nicht sein, dass für alles und jedes Steuer zu bezahlen ist: Verdienst du etwas, dann zahlst du so viel, dass von einer Gehaltserhöhung kaum was übrig bleibt, gehst du einkaufen, zahlst du wieder. Da sind sie sich ja alle einig, dass die Abgabenquote gesenkt gehört. Das sagen sie nun aber schon seit Jahren. Doch gespürt hat Kurt davon nichts - im Gegenteil: Es wird immer schwieriger, die Raten fürs Haus, die Rechnungen, die Einkäufe und die Anschaffungen für die Kinder zu bezahlen.

Kurt ist gedankenverloren bei der Wetterprognose für die nächste Woche angekommen und seufzt. Für nächste Woche sind also wieder Unwetter angesagt. Na, hoffentlich geht dann nicht wieder eine Mure ab. So wie letztes Jahr, als dann die Straße wieder eine Woche gesperrt war. Gemacht haben sie ja nichts - dabei haben sie doch versprochen, entsprechende Schutzmaßnahmen zu bauen. Eh wieder typisch: Da versprechen sie ständig, aber beim Umsetzen hapert es wieder. Kein Geld - was machen die eigentlich mit meinem Geld?

So wie Kurt geht es vielen Menschen. Viele von uns beginnen den Tag mit einer Recherche zu den Informationen, die uns wichtig erscheinen: In der Tageszeitung überfliegen wir kurz Politik, Chronik und Sportteil, um dann bei den Überschriften, die uns spannend erscheinen, ein wenig länger zu verweilen.

Im Laufe des Tages werden wir dann unzählige Male, weit öfter, als uns bewusst ist, mit Produkten der Politik konfrontiert, zu welchen wir abstrakt in der Zeitung etwas gelesen haben. Gesetze und Verordnungen unserer Politikerinnen und Politiker auf den verschiedensten Ebenen vom Parlament bis hinein in den Gemeinderat schreiben uns allerlei vor: Geschwindigkeitsbeschränkungen, Halteverbote, Steuerpflichten, Rauchverbote, Schneeräumpflichten, zeitliche Rasenmähverbote ... Ja selbst vor so intimen Bereichen wie dem Familienleben wird nicht Halt gemacht mit Bestimmungen über die Ehe oder das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern etwa.

Solange die politische Diskussion, die wir aus der Tageszeitung zu kennen glauben, Themen betrifft, die uns nur auf einer globalen Ebene zu betreffen scheinen - etwa unsere abstrakte Haltung zur Asylpolitik, zum Klimaschutz, zur Finanzierbarkeit des Pensionssystems oder der Krankenversicherung - solange ist der als einziger gemeinsamer Nenner empfundene Streit der politischen Lager etwas, das zwar Gesprächsstoff für Wirtshausrunden und Diskussionsforen im Internet bietet, aber eigentlich nicht mehr weiter stört. Mit zunehmender eigener Betroffenheit, begonnen beim Strafmandat fürs Falschparken über die Unterhaltszahlungen, zu denen man vom Gericht nach der Scheidung verdonnert wurde oder die vorgeschriebene Steuernachzahlung, bis hin zur gestrichenen Arbeitslosenunterstützung, beginnt allerdings genau diese politische Kultur des Austausches verhärteter Standpunkte, ein Ohnmachtsgefühl in uns auszulösen.

Weshalb muss man eigentlich all diese Eingriffe hinnehmen, wenn sie ohnehin über den eigenen Kopf hinweg beschlossen werden? Sind wir nicht in einer Demokratie? Vetrtreten eigentlich die Politikerinnen und Politiker uns noch, oder machen sie nach den Wahlen ohnehin alle nur das, was sie für richtig halten, statt sich damit zu beschäftigen, was wir wirklich brauchen?

(Dies ist ein gekürzter Auszug aus dem Buch "Politische Machtspiele - Schlachtfeld oder Chance", in welchem entlang praktischer Beispiele der Frage nachgegangen wird, ob unsere Demokratie noch zu retten ist -mit Mediation.)

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Hansjuergen Gaugl

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