Das Jahresende ist für viele Menschen eine regelmäßige Gelegenheit, eine Zwischenbilanz über ihren aktuellen Lebensabschnitt zu ziehen. Weshalb das gerade zum Jahreswechsel ist, liegt wohl eher in der Macht der Gruppendynamik als im tatsächlichen Zusammentreffen einer genau zu diesem Zeitpunkt für das Leben aller Menschen hilfreichen Übung. Unzählige andere Ereignisse wären da nämlich im jeweiligen Leben viel geeigneter: vollkommen unabhängig von dem, was gerade auf dem Kalender für ein Datum ausgewiesen wird, steht man nämlich verteilt über das Jahr an wesentlich bedeutsameren Scheidepunkten als dem bloßen Wechsel der Jahreszahl; an Weggabelungen, bei welchen die Reflexion deutlich mehr an Mehrwert bringen könnte als zu Silvester in von Böllern und Alkohol bestimmter Atmosphäre. Aber gut, man hat sich stillschweigend darauf geeinigt, eine medial unterstützte Massenreflexion samt Beteuerung der Neuausrichtung zu betreiben. Weil es sich so gehört.

2015 hat ein Thema, welches für sich genommen bedauerlicherweise gar keinen neuen Kern hat, Europa von vielen anderen Herausforderungen abgelenkt: der Krieg im Nahen Osten. Ja, kriegerische Auseinandersetzungen gibt es leider unentwegt auf unserem Planeten, und eigentlich sind die Menschen bereits so abgestumpft gegen das damit verbundene Leid, dass ihnen bei den diesbezüglichen Nachrichtenbeiträgen schon lange nicht mehr das Frühstückskipferl im Hals stecken bleibt. Ist ja eh normal, dass Menschen das Dach über dem Kopf weggebomt wird und Märkte, auf denen eigentlich frische Waren feilgeboten werden, von Leichenstücken und Blut bedeckt sind. Doch 2015 beherrschte die Zerstörungswut der Menschheit, welche Syrien aus wahrscheinlich geopolitischen Gründen fest in ihren Bann gezogen hatte während der letzten Jahre, dann doch auch die europäische Öffentlichkeit: da wagten es doch tatsächlich Menschen aus der betroffenen Region, ihr Leben in die Hand zu nehmen und in Europa die Hoffnung auf ein erfülltes Leben zu suchen. Nicht hundert, nicht tausend – nein, von einem Flüchtlingsstrom bestehend aus einer siebenstelligen Anzahl von Menschen war plötzlich überall die Rede.

Und während sich die Regierungen nicht so recht darauf einigen konnten, wie damit umzugehen ist – vielleicht war man ja auch nur schlicht und ergreifend froh, ein sichtbares und spürbares Thema geboten zu bekommen, das die Aufmerksamkeit von ganz anderen anstehenden Entscheidungen über die weitere Ausrichtung des Sozialstaates ablenkt, weshalb hier einfach Uneinigkeit und Unschlüssigkeit zelebriert wurde – teilte sich die Gesellschaft in verschiedene Lager: es bildeten sich zum einen jene Gruppen, welche einfach nur die Bedürftigkeit der ankommenden Menschen sehen wollten und es zur nicht zu hinterfragenden Pflicht erhoben, allen heranströmenden Menschen „Willkommen“ zuzurufen; zum anderen fanden sich zahlreiche Menschen, welche die Kultur und die Sicherheit der europäischen Staaten in Gefahr sahen und am liebsten eine riesige Käseglocke aus Panzerglas über Europa gestülpt hätten. Und natürlich noch einige, die dazwischen schwankten und sich die Frage stellten, wie denn Menschlichkeit und Sicherung des eigenen gewohnten Umfeldes zusammenpassen könnten – ob es denn nicht auch andere Lösungen geben müsste, als die scheinbar beginnende Völkerwanderung mit Nachzieheffekt auch auf andere Staaten als dem eigentlichen Kriegsherd mit Euphorie zu begrüßen oder Menschenverachtung zu bekämpfen. Könnten Worte töten, so wären in der zwischen diesen Lagern ausgebrochenen Diskussion in der mit Geschichten und eindrucksvollen Fotobeweisen für die Richtigkeit der eigenen Position noch zusätzlich angeheizten Stimmung bereits Millionen Opfer zu verzeichnen. Können sie aber nicht – und so sitzt Europa auf dem emotionalen Pulverfass, das sich Gott sei Dank nur vereinzelt in schrecklichen Ereignissen mitten in unseren Städten entlädt.

Wird das 2016 besser? Wird die „bauliche Maßnahme“, welche mehr nach Schildbürgerstreich als nach einer auch nur irgendeinen Zweck erfüllenden Geschichte aussieht, etwas verändern? Wird die Gesellschaft erkennen, dass der Krieg der Worte mehr zerstört als hilft? Werden die Menschen einander zuhören, wenn jemand sagt „ich habe Angst“ und sich gemeinsam auf die Suche begeben, Lösungen zu finden – oder bleibt dieses Vorrecht, mit seiner Furcht ernst genommen zu werden, Flüchtlingen vorbehalten? Werden die Menschen 2016 einander zuhören, wenn sie berichten, nicht mehr wegsehen zu können bei dem Leid, oder bleibt es bei der reflexartigen Kategorisierung der Helferinnen und Helfer als „Gutmenschen“ – die dann ihrerseits im Umgang mit ihrer eigenen Nachbarschaft viel zu oft unter Beweis stellen, dass diese Bezeichnung eher das Schlechte denn das Gute in ihnen hervorzukehren vermag.

Es ist also Konvention, den Jahreswechsel zur Reflexion über das abgelaufene Jahr zu nutzen. Und für das Bilden guter Vorsätze für das neue Jahr. Wie wäre es, wenn neben den klassischen Vorhaben, mit dem Rauchen aufzuhören oder diesmal wirklich etwas für die Badesaisonfigur zu machen, mal der Vorsatz gefasst würde, einander zuzuhören? In Ängsten und Wünschen der anderen keine Bedrohung mehr zu sehen, sondern vielmehr die Möglichkeit der Bereicherung durch das Finden gemeinsamer Lösungen? Das Beispiel des Umganges mit den noch bevorstehenden Flüchtlingsströmen gäbe genügend Gelegenheiten.

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