Es ist ein Zeichen der von vielen als schnelllebig empfundenen Gegenwart, dass Dinge vereinfacht dargestellt werden. Gerade bei komplexen Dingen glaubt man schnell, es stünde nicht genug Zeit zur Verfügung, sich näher damit zu beschäftigen. Zugleich scheint es sich zu einem Reflex in der Gesellschaft ausgeprägt zu haben, dennoch zu allem und jedem ein Urteil abgeben zu müssen: ist Windkraft nun gut oder schlecht, steht das Pensionssystem vor dem Kollaps oder wird es weiter bestehen als Garant dafür, auch im Alter am gesellschaftlichen Wohlstand teilhaben zu können, sind Flüchtlinge nun zu unterstützen oder als Gefahr des europäischen Wertesystems abzuwehren …

Was in den großen Fragen mit zunehmender Geschwindigkeit der Einteilungsversuche in pro und contra Ausdruck wenig hilfreicher Vorurteile wird, das passiert auch in der alltäglichen Begegnung mit anderen Menschen. Es werden plötzlich simplifizierte Aussagen über die Eigenschaften des anderen als vermeintliche Begründung für die Uneinsichtigkeit des Findens einer gemeinsamen Lösung getätigt. „Klar kannst du das nicht so sehen, wo du doch alles immer so schnell angehen musst.“ Ohnehin bestehende gemeinsame Ansätze zu einem Thema geraten zunehmend aus dem Blickfeld. Im Extremfall wird sogar das Vorliegen eines durchaus gemeinsamen Interesses einfach übersehen. Mehr und mehr wird das Gegenüber, das eine Meinung in einer von einem selbst als bedeutsam eingestuften Frage nicht teilen will oder kann, des Zuspruches einer eigenen Persönlichkeit beraubt: irgendwann wird ihm nicht mehr zugestanden, Individuum mit zahlreichen Facetten einer Persönlichkeitsstruktur zu sein. Das Gegenüber wird statt dessen als das personifizierte Übel gesehen – das es zu bekämpfen gilt stellvertretend für alles Schlechte auf der Welt. Das reicht dann so weit, dass der bloße Gedanke an den Namen der anderen Person bereits ausreicht, um die Adrenalin in Unmengen auszuschütten – und dabei blind zu werden für alles, was nicht in das Bild des selbst definierten Bösen passt.

„Alles schön und gut – aber mir passiert so etwas sicher nicht“ werden nun viele denken. Super! Denn ja, jede und jeder einzelne hat es selbst in der Hand, sich gegen diesen gesellschaftszersetzenden Prozess zu wappnen. Mit ein wenig Achtsamkeit, ein wenig Offenheit, ein wenig Interesse, ein wenig Erwartungsfreiheit. Was man an vermeintlichen Widersprüchen hört kann sich dann nämlich rasch als Gemeinsamkeit entpuppen – als gemeinsamer Nenner in den Bedürfnissen oder in der Beobachtung, halt aus anderer Perspektive.

Beispiel: Es lässt sich vortrefflich darüber streiten, ob man nun im Schlossgarten von Schönbrunn steht oder nicht, wenn der eine von einem wunderbaren Brunnen spricht, von dem aus links und rechts ein Serpentinenweg einen Hügel hinaufführt, und der andere darauf besteht, dass man doch vom Schlossgarten aus auf ein dem Schloss von Versailles ähnliches Gebäude sieht. Die beiden müssten sich, für einen Außenstehenden leicht erkennbar, einfach nur umdrehen, um die Sicht des anderen nachvollziehen zu können und zu erkennen: Wir stehen ja eh am selben Ort, ja vielleicht sogar direkt nebeneinander. In der Hitze des Gefechts, auf das man sich gerade einlässt, aber gar nicht so leicht.

Auch die social media sind nicht gefeit vor diesen Dynamiken. Rasch passiert es nämlich, dass Zuspruch beziehungsweise Ablehnung für einen Kommentar danach bewertet werden, welche Userin beziehungsweise welcher User als Urheberschaft angeführt wird. Wird einmal ein kritischer Beitrag bejubelt als wertvoll für die Erinnerung an mögliche andere Sichtweisen abseits des Mainstreams, so kann derselbe Inhalt bei einer anderen Person als Grundlage für die Notwendigkeit von Cybermobbing verstanden werden: mal Zustimmung, mal ein Shitstorm. Und das bloß, weil eine andere Person dieselbe Meinung vertreten hat. Eine Person, welche einmal als Individuum gesehen wird, einmal als entpersonifiziertes Übel, zu dem man nur den Namen lesen muss um schon zu wissen, dass der Inhalt nichts taugen kann.

Auch FischundFleisch ist hier leider keine Ausnahme. Das sieht man beispielsweise bei der Vergabe von roten Daumen zu einzelnen Kommentaren, wo man sich als Außenstehender in Unkenntnis der zugeschriebenen Attribute zu den einzelnen Userinnen und Usern oft fragt, was genau an der bewerteten Aussage denn schlimm sein soll. Seit einigen Wochen läuft dazu aber auch ein Experiment, das genau diesen Umstand belegt – dass nämlich ein und derselbe Mensch mal bekämpft und schließlich gesperrt wird, da die Zahl der über ihn geführten Beschwerden ein unerträgliches Ausmaß angenommen hat, er es mit einem anderen Account allerdings auch schon mal in die gelisteten Beiträge auf der Startseite schafft und einer der beliebtesten Kommentatoren ist. Nicht, weil er sich verstellt – nein, es geht um zum Teil sogar wortgleiche Kommentare.

Es wäre schön, wenn man sich wieder mehr Zeit nehmen würde für Dinge, zu denen man den Drang verspürt, über sie zu urteilen. Dasselbe gilt in noch größerem Maß für Menschen: wer tatsächlich meint, einen Menschen in eine Schublade stecken zu müssen, sollte sich dafür viel Zeit nehmen und zunächst einmal hinterfragen, was denn hinter dem Beobachteten steckt. Wem tatsächlich friedlicher Zusammenhalt der Gesellschaft wichtig ist, der wird nicht umhinkommen, auf diese Weise einen wichtigen eigenen Beitrag zu leisten. Alles andere ist nämlich bloß ein Puzzlestein in der Vergrößerung der vielseits beklagten Gräben durch die Gesellschaft.

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liberty

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