1. Ich fahre oft mit der gleichen U-Bahn, auch oft zu ähnlichen Zeiten, - nun war schon wieder dieser Mann da, mir visavis, es war mir fast schon unangenehm, er war ja auch kein Michelangelo - oder was man sich so vorstellte unter einem, der so Unbegreifliche Dinge entwerfen konnte wie den Petersdom und die Pieta... Der Unbegreifliche, er soll ja auch sich kaum je Zeit genommen haben, sich zu pflegen, schlief mit Stiefeln ein, und Wäsche trug er, bis sie ihm vom Leibe fiel...
Das waren so die Gedanken, in denen man schwelgen konnte, - und da muss ich schon wieder visavis diesem eher überdurchschnittlich durchschnittlichen Gesicht im durchschnittlichen Alter mit allem Drumherum sitzen, das auch nach Durchschnittlichkeit roch, aussah, nun nix ausstrahlte, was einem nach "Mehr" verlangen könnte...Also nein; - hat er mich etwa abgepasst...
2. Als er dann auch noch in der gleichen Station ausstieg, und Anstalten machte mir zu folgen, beschleunigte ich meinen Schritt.
Aber an der Bushaltestelle gab es kein Entkommen, der Bus kam ja an Wochentagen nur im Halbstundentakt, oiahje. Eine Bank war da auch noch, und ich setzte mich doch schon recht gerne nieder beim Warten...Und tatsächlich - er setzte sich ungeniert daneben. Es gab da aber auch noch einen dritten Platz: den hatte eine "ältliche Dame" - darf man das sagen - schon okkupiert; sie sah ins Nichts, oder kam mir das nur so vor... Egal.
3. Und dann kam das - was ich doch so gerne vermieden hätte, der andere "überdurchschnittlich Durchschnittliche" fing an zu sprechen, und zwar direkt zu mir gewandt: "Entschuldigen, ich störe Sie sicher in ihren Gedanken... aber ich möchte Ihnen unbedingt eine Art Beichte ablegen, - der vorige Bus ist uns ja gerade vor der Nase davongefahren, also müssen wir sowieso eine halbe Stunde warten, - darf ich Ihnen also was erzählen, also beichten sozusagen?" - Ich zog die Augenbrauen hoch, was tun: "Ja, wenn Sie das unbedingt wollen, kann ich nicht gleich davonlaufen..." Ich wollte noch was beifügen, dass sein Ding aber doch kurz und bündig ausfallen sollte, aber er war schneller und überfiel mich mit seinen etlichen "Danke-schön, danke.....!"
4. "Also was ich bei Ihnen unbedingt los werden wollte, - ich weiß auch nicht warum und wieso, - aber es liegt mit nun auf der Zunge, und ich dachte Sie wären der richtige dafür...blabla..."
5. Ja, schießen Sie schon los, sagte ich fast unwirsch, und wandte mich ihm nun voll zu, - was sollte ich auch sonst tun... Also?
6. "Mir fällt es wie Schuppen von den Augen, - ich habe alle Frauen, die ich in meinem Leben getroffen habe, also die das Pech hatten mich zu treffen, enttäuscht!...Und das hat schon mit meiner Großmutter angefangen...Sie hat immer girigiri gemacht, wenn ich am Wickeltisch lag, und ich habe gelacht, sie dachte "an"gelacht, aber evtl. war es eher ausgelacht...; verstehen sie mich?" - Ich wollte tief durchatmen und was erwidern, das zu einem baldigen Ende führen könnte, aber er liess mich kaum richtig ausatmen: "Und irgendwie war es dann immer dassselbe: also sie lachten mich an, so irgendwie, meine erste Ehefrau, eine Zufallsbekannte, die Freundin meiner Schwester, eine Intellektuelle aus einem Arbeitskreis mit einem deftig selbstreferentiellen Leiter, der die Frauen alle vorsichtig im Kreis schauen liess, wie diesem Leiter entkommen, der auch nicht und nicht aufhören wollte, die Einleitung zu Ende zu bringen, Sie kennen das wahrscheinlich auch...; also ich hoffe ich langweile Sie nicht zu sehr...!" Naja, sagte ich, es geht schon...
7. "Aber bitte ich sage das deshalb, weil nun der Punkt des Anstosses kommt: ich habe 20 Jahre später, meine Großmutter war immer noch eine gleich rüstige Frau, sehr gesund eigentlich immer, und wollte mir wiedereinmal was "Fürsorgliches" tun, also bekam ich eine richtig gut temperierte Tasse Kaffee in mein damaliges Arbeitszimmer serviert, - und ich wollte mich doch weg-machen, aus dem gewohnten Wickelpolsterzimmer, aber ich liess es geschehen; die Tasse wohltemperierten Kaffees stand nun also von meinem Skriptum, und ich sollte sie gemüßlich und wohl auch wertschätzend dankbar austrinken, mich dabei in meiner Studienarbeit auch erfrischen, - sie war so ganz bei mir, also fürsorglich, - und ich machte nur eine unwirsches Gesicht, und da ging sie wieder aus dem Zimmer, schloß leise die Türe, zufrieden auch mit einem unwirschen Gesicht vom "Bürli"; aber der Bürli warf plötzlich die volle Tasse Kaffee, samt Untertasse und Umrührlöffel, samt Inhalt und allem was dies umgab, unbewußt wütend genau gegen diese Türe, und der braune Saft rann an dem getäfelten alten großen Doppeltüren langsam herunter. - Die Großmutter hörte den Knall und das Geschirr zerbrechen, also ein Teil zerbrach dabei, ja, - ich hör es noch immer, und es tut mir heute noch so leid, aber ich kann es nicht mehr ungeschehen machen Das ist nun lange Jahre her, schließlich hab ich dann in den 1960ern promoviert, - muss also wohl lange her sein, aber es verfolgt mich, wie könnte ich es ungeschehen machen, Verzeih mir Großmutter,...!"
6. Ja, ja, sagte ich, so was wird es wohl öfter geben, - aber bitte weinen Sie nicht, nicht hier, nicht bei mir, - was kann ich denn tun, ich versteh es ja einwenig, aber es war schon sehr rücksichtslos, das muss ich zugeben,....Hmmm
7. "Aber, Sie, Herr, ich weiß ja nicht wie ich Sie ansprechen darf, das ist auch noch nicht alles, - das ging so weiter, also nicht mehr mit der Großmutter - obwohl ich vermute niemand im Leben hat mich je noch so selbstlos geliebt, also einfach um alles in der Welt geliebt, alles für mich gegeben, ihr Herzblut, und ich hab es damals verdrängt, und seither immer wieder verdrängt, und nun kann ich nicht mehr, es taucht täglich auf, und ich weiß nun gar nicht, wie ich noch was gut machen kann, wie denn auch, sie ist ja doch auch schon lange tot, - und zudem unnötig gestorben, selbst mit 93 war sie topfit - für alle ...; aber im Krieg hat man gelernt, Strom-sparen, also Licht nur aufdrehen, anmachen, wenn unbedingt nötig; und nächtens aufs Klo zu gehen, ist kein ausreichender Anlass, Licht zu machen ... selbst 1968 nicht, wo doch der Krieg schon lange vorbei war, und alle zu urassen begannen, - aber meine Großmutter nie. Der Teller wird "zamputzt", Essbares wird nicht weggeworfen, Unnötiges wird nie verbraucht, es sei denn, es müsste einen praktischen Sinn haben...Aber die Familie hat versagt, wir alle - die Familie hatte ja schon drei Kinder, die Mutter ihre Busenfreundin, der Vater viele Gelegenheitsgeliebte, die Kinder wollten nach dem Campingurlaub dann doch auch bald schon lieber allein oder mit ihrer Clique wegfahren, alle taten als ob sie was studierten, manchmal auch echt, aber man ließ - weil alle so beschäftigt waren mit sich und in dem Auseinandergehenwollen der Familienmitglieder, die Großmutter also einmal allein in einen kleine Urlaub fahren, denn niemand hatte sie eingeladen, doch mit ihnen zu fahren ... Also alles war leer, die Wohnung, wo 1945 folgende sie alle sich zusammmen gedrängt hatten, sich also nahe waren, und dabei zusammen, vereint im Zweck zumindest wieder mal sich satt essen zu können, und damals war die Großmutter wichtig, und i.a. auch irgendwie vermutlich glücklich. Aber dann 1968 war schon soviel Wohlstand eingezogen, dass wieder alle allein ihren "Glücklichsuchen" nachgingen, und Großmutter allein zuhause gesessen wäre, also hat sie sich aufgerafft und wo eine - eh nur ein paar Kilometer entfernte "Sommerfrische" aufgesucht, um dort eine Woche halt zu verbringen, was sonst tun, wenn alle weg sind vom "Zuhause"...
Und da passierte es, sie blieb ihren Kriegsgewohnheiten - die ja in Fleisch und Blut übergegangen sind - treu, Licht wird nicht angemacht, ausser es wäre dringend nötig; aber in der Fremde, waren Tische und Sessel in einem an sich fremden Kleinhotel-Zimmer ganz anders herumstehend, man kann sich anhauen, und dann auch stürzen, und sich eine Rippe brechen, die Lunge verletzen, und mit 93 ist das kein Wegsteck mehr, man stirbt daran...."