1. Zwei Schiffbrüchige (A und B) haben sich auf eine kleine Insel im Ozean gerettet.Beide sind ungefähr gleich alt, aber A ist physisch wesentlich stärker als B. – Sie hatten das Glück, dass von dem gesunkenen Schiff ein großer Vorrat an Lebensmittelkonserven ebenfalls auf diese Insel geschwemmt wurde. Um diese Lebensmittel vor Witterungseinflüssen zu schützen, wurden sie in eine Höhle geschafft . Diese Höhle hatte nur einen kleinen Eingang. – A war ein passionierter Raucher. Um auf der Insel rauchen zu können, hatte er sich kleine Bambuspfeifen geschnitzt, die aber, da man sie nicht säubern konnte, nach einigen Malen nicht mehr gut benutzbar waren, zumal er auch nur ein scharfes Kraut als Tabaksurrogat hatte. Er mußte sich also, um zu einem annehmbaren Rauchgenuß zu kommen, täglich eine neue Bambuspfeife schnitzen. Dies wurde ihm mit der Zeit lästig, und so ersuchte er einmal B, der kein Raucher war, ihm eine Pfeife zu schnitzen. B willigte, wenn auch nicht begeistert, aus Gefälligkeit ein. Also hatte A nichts zu tun und setzte sich vor den Eingang der Höhle in die Sonne. Da er bequem war, gefiel ihm dies sehr gut. Nach einigen Tagen forderte er B wiederum auf, eine Pfeife zu schnitzen und B willigte, um des lieben Friedens willen, wiederum ein. Mit der Zeit gewöhnte sich A daran, vor der Höhle in der Sonne zu sitzen und B daran, für A Pfeifen zu schnitzen . Da A die meiste Zeit vor der Lebensmittelhöhle verbrachte, war auch er es, der diese Lebensmittel zu den Mahlzeiten ausgab. A wurde sich dabei auch zunehmend seiner physischen Überlegenheit bewußt, denn es wurde immer deutlich er, dass B die Dosen akzeptieren mußte, die A ihm gab. – A handhabte mit der Zeit sein Geschäft so, dass er B für eine besonders gut geschnitzte Pfeife mit mehr Lebensmitteh belohnte und für eine schlecht geschnitzte durch weniger Lebensmittel bestrafte. – Nehmen wir nun an, fünf Dosen wären die normale Ration pro Mahlzeit, die B gewohnt war, so bekam er manchmal sechs, sieben oder acht und manchmal nur vier oder drei. B war mit der Zeit des Pfeifenschnitzens überdrüssig geworde, denn er hatte bereits Schwielen an den Händen. Auch ärgerte es B, für A derartige Dienstleistungen vollbringen zu müssen. Er überlegte sich also, ob er dem Pfeifenschnitzen entkommen könnte: Wenn er diesmal keine Pfeife zur Mittagszeit mitbrachte, mit welchen Konsequenzen hätte er zu rechnen: A könnte ihm dafür, wenn er besonders gut gelaunt war, trotzdem die fünf Dosen ausfolgen – aber dies war nicht sehr wahrscheinlich – oder A würde ihm nur vier, drei, zwei, eine oder aber auch gar keine Dose ausfolgen. Mit einer ärgeren Konsequenz hätte er auf keinen Fall zu rechnen – so schätzte B den A zumindest ein. Doch ganz ohne Mahlzeit auszugehen war unangenehm genug; sich aber durch Jagen und Fallenstellen selbst etwas Genießbares zu verschaffen, wäre noch mühsamer, als eine Pfeife zu schnitzen. –

2. Er schnitzte also wieder eine Pfeife, brachte sie mit und bekam seine Fünf-Dosenration. Dann sagte er zu

A: " Dies war die letzte Pfeife, die ich Dir geschnitzt habe". "Dann wirst Du morgen nicht viel zu essen bekommen", antwortete A. "Solltest Du das tun", antwortete B, "werde ich Deinen Mittagsschlaf stören, indem ich auf Dich Steine werfe". – "Das solltest Du besser unterlassen", antwortete A, "denn dann gebe ich Dir ein paar kräftige Ohrfeigen". B erwiderte: "Wenn Du mich schlägst, werde ich mein Blasrohr hervorholen und Dir die kleinen Pfeile ins Fleisch jagen. "B hatte sich nämlich heimlich ein Blasrohr und Pfeile angefertigt, jedoch waren die Pfeile sehr klein und konnten nur unbedeutende Wunden hervorrufen. "Solltest Du das wagen", sagte nach einigem Nachdenken A, "dann nehme ich einen Stock und verprügle Dich so, dass Du nicht mehr aufstehen kannst. Dabei könnte es passieren, dass ich Dich, obwohl ich es nicht möchte, totschlage". –

3. B wußte, dass dies wahr werden konnte, wenn es auch nicht sehr wahrscheinlich war. Nach diesem Gespräch wurde B sehr nachdenklich. Er lieferte weiterhin seine Pfeifen ab, aber er sann darauf, wie er diesem unangenehmen Verhältnis entrinnen könnte: Wenn er sich von dem Nahrungsmittelvorrat unabhängiger machen könnte, würde er seine Position verbessern. Also dachte er nach, wie er am einfachsten und besten Nahrungsmittel aus dem, was die Insel bot, gewinnen könnte und beschäftigte sich damit, soweit es seine Zeit erlaubte. Nach einigen Wochen hatte er die entsprechenden Fertigkeiten erlernt und sich sogar einen kleinen Nahrungsmittelvorrat in einer versteckten Höhle, die er sich zu diesem Zweck am anderen Ende der Insel ausgesucht hatte, angelegt. – Als er eines Morgens von A wiederum den Auftrag erhielt, eine Pfeife zu schnitzen, ging er wie gewöhnlich davon, kam aber um die Mittagszeit nicht zurück. Er verzichtete auf die Dosen, begnügte sich mit seinen erjagten Nahrungsmitteln und brauchte so auch keine Pfeife abzuliefern. So lebte er mehrere Tage. Die erjagten Nahrungsmittel schreckten aber nicht besonders und B hätte gerne wieder einige Dosen gehabt. Also schnitzte er einige Pfeifen und ging damit zu A. Er bot dem erstaunten A nun gleich zwei Pfeifen an, allerdings wollte er dafür auch fünfzehn Dosen haben. A war böse, aber auch erleichtert, auf relativ bequeme Weise wieder zu seinen Pfeifen zu kommen. Doch er wollte ihm zunächst nur sieben Dosen für beide Pfeifen geben. Nach längerem Verhandeln einigten sie sich auf elf Dosen für die zwei Pfeifen. -Dieses Handelsverhältnis dauerte einige Zeit an. B wurde immer kühner in seinen Forderungen, und auf Grund A' s Bequemlichkeit konnte er den " Preis " für die Pfeifenlieferungen auch etwas in die Höhe treiben. Als A eines Tages merkte, dass sein Lebensmittelvorrat auf diese Wei se schon erheblich zusammengeschrumpft war, war es mit seiner Verhandlungs-bereitschaft zu Ende. Als B das nächste Mal kam, um mit A das übliche Handelsgeschäft abzuwickeln, drohte ihm A, er werde ihm die mitgebrachten Pfeifen einfach wegnehmen, falls er sich nicht mit einer Dose pro Pfeife zufrieden gäbe. B mußte nolens volens einwilligen. Er dachte nach: Solange A physisch überlegen war, nützte ihm seine Lebensmittelunabhängigkeit wenig, ja er konnte froh sein, dass A ihn nicht aufstöberte, verprügelte und seine Vorräte raubte. A hatte also letztlich die Möglichkeit, den Preis zu diktieren. –

4. So dachte B nach, wie er die physische überlegenheit A's wettmachen könnte und er kam darauf, dass, falls es ihm gelänge, seine Pfeile zu vergiften, er A auch schwere, ja tödliche Verletzungen beibringen könnte. Er arbeitete also an diesem Projekt, und eines Tages gelang es ihm. Er hielt sich daraufhin in der Nähe von A's Lebensmittelhöhle auf, und als ein Tier vorbeikam, schoß er es vor A's Augen mit seinem vergifteten Pfeil an. Zum großen Erstaunen von A, war das Tier auf der Stelle tot, obwohl es B an einer Stelle getroffen hatte, die an sich nur eine geringe Verwundung verursacht. – Aus sicherer Entfernung rief B nun A zu, er möchte wieder ein "Pfeifen-Dosen-Geschäft" machen, fordere aber nun zehn Dosen für eine Pfeife. A dachte

nach. Die Situation hatte zu seinen Ungunsten umgeschlagen. B konnte ihn aus einer Entfernung mit seinen Pfeilen erreichen, die größer war, als die Reichweite seines Stockes. Aber schließlich kam A darauf, dass er B drohen könne, er werde ihn in der Nacht aufsuchen und totprügeln, falls er sich nicht mit zwei Dosen pro Pfeife zufried engäbe. Schließlich einigten sie sich auf sechs Dosen pro Pfeife. –

5. B merkte sich die Drohung A's und begann sofort an einem Gitter für seine Höhle zu basteln, das ihn, sobald man es von der Außenseite angriff, über einen entsprechenden Mechanismus aufweckte. -Beide schliefen fortan mit ihren Waffen und trugen sie auch tagsüber immer bei sich. Als B nun seine Situation überdachte – bei Tag hatte er seine Pfeile, mit denen er A auf Distanz halten konnte und bei Nacht sein Warnsystem – da bemerkte er, dass nun er in entschiedenem Vorteil war: Warum sollte er nicht einmal A für sich arbeiten lassen. Er erschien also eines Tages in entsprechender Entfernung vor A's Höhle und forderte ihn auf, für ihn Steine zu sammeln. Als A ihn auslachte, erklärte B, dass er A nun auch in der Nacht nicht mehr fürchte, und bei Tag solle A sich vor seinen Pfeilen hüten. Obwohl A wütend war und mit dem Stock drohte, mußte er nach kurzem einsehen, dass er nun B ausgeliefert war und ihm nichts anderes librigblieb , als die verlangten Dienste zu leisten. B wird bequem, A entwickelt neues Drohmittel USW. USF.

6. In dieser Parabel zeigt sich die Zuspitzung auf jeweils ein dominierendes Handlungsmotiv pro Person und Konfliktfall. Daher erscheint eine Analyse der sogenannten rationalen Dimension der Dyade sinnvoll. Das dominierende Handlungsmotiv wird von einem dahinterliegenden Hauptbedürfnis getragen: Um dieses den Umständen gemäß optimal zu befriedigen (= was den subjektiven Nutzen darstellt) wird dabei gewöhnlich ein "psychosozialer Druck" ausgeübt, in der Parabel z.B. durch Drohung mit Güterentzug oder Destruktion. Dieser Druck kann als der harte Kern des Machtkonzeptes angesehen werden: Er besteht hier in der interpersonell wirksamen Präsentation (= dem Ins-Spiel-bringen) von Verhaltenskonsequenzen. Von Antipathie bis Existenzbedrohung kann dies alle möglichen Formen annehmen.

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