In unserer Bundeshauptstadt geht seit einigen Jahren ein Virus um. Er macht nicht körperlich krank; er befällt den Geist. Mit ausgemachter Perfidie, denn der Betroffene fühlt sich gut; dieses gute Gefühl ist die Vermehrungsstrategie des Virus, es bewirkt, dass der Erreger willkommen geheißen wird.
Das gute Gefühl ist die Empfindung des Guten, das man will. Ein schönes Gefühl, schön wie eine Orchidee. Wie sie entspringt es einem Humus, der genau richtig sein muss, damit die Pflanze blüht. Im Falle des Gutseins ist der Mutterboden die erreichte Kulturhöhe, die uns über das Leid des Kampfes ums Dasein erhebt. Der Gute muss nicht um sein Leben fürchten; müsste er es, wäre er nicht gut, er wäre krasser Egoist. Wem es dreckig geht, der sieht nur sich selbst; erst kommt das Fressen, dann die Moral.
Wem es gut geht, der kann an andere denken. Da sind wir angekommen. Uns, die wir schon länger hier leben, geht es prachtvoll, und so bringen wir unseren Altruismus zur Blüte. Denn das fühlt sich wunderbar gut an.
Nun reicht gutes Wollen nicht; das gute Handeln muss hinzukommen. Soll das Handeln gelingen, braucht es die Vorbedingung des Wissens, was zu tun ist.
Wo ist das Problem? Wir wissen doch, was wir tun sollen. Liebe deinen Nächsten. Nimm dich seiner an. Frage nicht nach morgen, sondern kümmere dich jetzt und hier um den, der Hilfe braucht, denn du kannst es, dir geht es gut. Ach, ist das schön, welch wunderbarer Weg! Darauf lasst uns unsere Politik gründen, wir haben die Lösung gefunden.
So spricht der Virus. Er manipuliert den Geist, so dass dieser die Güte des Gedachten nicht mehr hinterfragt, er macht immun gegenüber Selbstkritik, löscht Geschichtsbewusstsein. Wiederholen wir Fehler? Welche Fehler denn? Die Generationen vor uns waren Egoisten, waren ungebildet. Man muss nicht betrachten, was sie anrichteten, denn sie waren noch nicht gut. Wir hingegen, wir mit der richtigen Intention sind es, wir haben den Weg gefunden. Endlich.
Setzen wir ihn durch. Erziehen wir das Volk draußen im Lande, das noch nicht so weit ist wie wir.
Das ist die Berliner Informationsblase. Sie hat keine Ahnung, wie alt Homo sapiens ist (komm Leser, nenn mir eine Zahl der Jahre, jetzt, ohne zu googeln), welche Fehler er schon gemacht und x-mal wiederholt hat, warum man Soziologie nur im Lichte der Psychologie versteht, die nur im Lichte der Biologie und die nur im Lichte der Evolution. Sie ist geschichts- und zukunftsblind.
Die Informationsblase ist Blüte einer kulturellen Orchidee. Schön ist sie, weil durch und durch gut. Aber der Preis dieser Schönheit ist die Vergiftung des Bodens, auf dem sie gedieh; sie ist eine Virusinfektion, die in nur fünfzig Jahren auf Jahrhunderte hinaus die Hervorbringung nicht nur von Orchideen verhindern wird, sondern auch die von Kartoffeln und Weizen (falls der geneigte Leser der Metapher noch folgt). So manche Viren bringen ihre Wirte um. Das ist dumm von ihnen, weil sie sich selbst auslöschen, aber sie können nicht anders, weil sie es nicht besser wissen.
Berliner Republik.