Die aggressivsten Hass-Poster im Netz sind oft keine Nazis sondern leiden vielmehr unter „empathischem Stress“.
Das soll jetzt freilich keine Entschuldigung sein, aber es erklärt, wieso eine große (und gefühlt größer werdende) Anzahl von Menschen auf das Leid anderer nicht mit Hilfsangeboten oder Mitleid sondern mit Aggression bis hin zu Todesdrohungen reagieren.
Soziale Neurowissenschaft
Aber fangen wir am Anfang an. Erst seit wenigen Jahren beschäftigt sich die soziale Neurowissenschaft mithilfe von bildgebenden Verfahren über die Reaktionen des menschlichen Gehirns auf Außenreize und besonders Emotionen. Eines der Ergebnisse dieser Forschungen ist einerseits verblüffend – andererseits Philosophen und auch vielen Religionen seit Jahrtausenden wohlbekannt: die Menschheit ist mehr oder weniger eins!
Soll heißen, wenn wir eine Situation oder die Gefühle anderer Menschen wahrnehmen, reagiert unser Hirn so, als würden wir diese Situation selbst erleben. Denn wir sind ursächlich auf Zusammenarbeit und Hilfeleistung programmiert – ganz im Gegensatz zur gängigen neoliberalen, pseudodarwinistischen, „jeder für sich“-Mentalität.
Wir leiden automatisch mit
Wenn es sich nun um negative Gefühle wie extremes Leid oder bittere Armut handelt, passiert folgendes: wir als menschliche Betrachter können gar nicht anders als dieses fremde Leid als unser eigenes zu empfinden! Wir reagieren darauf „empathisch“, soll heißen das Leid der Anderen wird zu unserem eigenen Leid!
Im Leid stecken bleiben
Wenn wir dieses fremde Leid nun aufnehmen und nicht sinnvoll kanalisieren können, geraten wir in empathischen Stress. Ein klassisches Beispiel dafür ist ein schreiendes und weinendes Kind: ist etwa die anwesende Mutter nicht in der Lage aus ihrer erlebten Empathie – dem Kind geht es schlecht, also fühle ich mich auch schlecht – die richtigen Schlüsse zu ziehen und ihm mit Liebe oder Aufmerksamkeit oder Nahrung zu helfen, gerät sie in empathische Stress Sie wird vielleicht selber zu weinen beginnen oder, gegebenenfalls, aus Hilflosigkeit sogar aggressiv reagieren und etwa das Kind anbrüllen. Allen Beteiligten geht es schlecht.
Mitgefühl: die nächste Stufe
Erst wenn es gelingt diese diese unreflektierte Empathie in Mitgefühl umzuwandeln, können wir auch die negative Emotionen umwandeln: wir wollen dem anderen helfen und helfen ihm vielleicht sogar. Durch diese Umwandlung verwandeln sich auch gleichzeitig unsere negativen Gefühle in positive. Denn wenn wir helfen und es dem anderen drauf hin besser geht, empfinden wir damit – wiederum empathisch – das Glück des anderen auch wieder als unser eigenes: uns geht es gut.
Mitgefühl lernen
Leider können viele Menschen diesen Schritt von der Empathie zu Mitgefühl nicht gehen. Unter anderem, weil sie es nie gelernt haben. Mit anderen Worten: wer eine liebevolle Erziehung genossen hat, und das Gefühl des bedingungslosen angenommen Werdens kennt, hat es leichter mit negativer Empathie umzugehen und sie in etwas Positives umzuwandeln. Wer das nie erlebt oder gelernt hat und vielleicht eher in einem freudlosen, lieblosen Umfeld aufgewachsen ist (was nicht unbedingt eine Frage der Vermögensverhältnisse ist), hat kaum die Möglichkeit die negativen Gefühle, die auf ihn eintreffen zu kanalisieren. Oder hat nur ein begrenztes Aufnahmevermögen dafür. Und wandelt sie daher in Ablehnung oder in Aggression – oder sogar Hass – um.
Arme Würstchen
Insofern sind all diese Hass-Poster im Internet, Leserbriefschreiber und Stammtischrandalierer arme Würstchen. Das täglich durch die Nachrichten auf sie einprasselnde Leid anderer gelangt ungefiltert in ihr Hirn und in ihre Emotionen. Sie leiden mit, können darauf aber nicht adäquat reagieren, schotten sich teilweise ab oder werden zu (Schreibtisch-)Tätern.
Das hilft uns allen in der derzeitigen Situation natürlich nicht besonders viel. Es wird nicht so einfach sein mit Geduld – und wiederum Empathie und Mitgefühl – auf die emotionale Situation der Hass-Poster einzugehen und sie somit vielleicht auf einen besseren Weg zu führen. Aber allein um diese Zusammenhänge zu wissen, könnte bereits ein Gamechanger sein: vielleicht hilft es doch den einen oder anderen Troll zu befrieden. Oder man kann den einen oder anderen im fremden Leid Gefangenen sogar den Weg aus diesem Dilemma weisen.
Die Wissenschaft arbeitet bereits daran, steht aber noch am Anfang. Inzwischen obliegt es uns der emphatischen und mitfühlenden Mehrheit(?) dem Hass entgegen zu treten und die tatsächlich Schutzbedürftigen auch tatsächlich in Schutz zu nehmen.
---
Die Grundlage dieses Blogs ist eine Radiosendung auf Ö1, in dem die Neuirowissenschaftlerin Tania Singer über ihren Beruf und die Ergebnisse ihrer Forschungen berichtet: http://oe1.orf.at/programm/410856.
Die Rückschlüsse auf Hassposter werden hier aber zum ersten Mal formuliert.