Lange ist es her, dass wir das letzte Mal in Leonidio waren, genauer gesagt in 1983, im Mai. Damals näherten wir uns von der anderen Seite, auf der abenteuerlichen Gebirgsstraße über Geraki und Kosmas auf 1150 m Seehöhe, über einsame Schotterstraßen mit Begegnungen wie der mit dem Bauern, der das Getreide noch mit der Sichel mähte. Kosmas bestand nur aus schiefergedeckten Häusern auf einer Art Alm. Die Telefonleitungen wurden noch von Hand gestöpselt und im Kafenion bullerte ein Kanonenofen in der Maikälte vor sich hin. Verglichen damit war Leonidio, das saubere Kleinstädtchen mit griechisch-gemütlichem Flair, ein Ausbund an Modernität. Wir mussten damals weiter, aber Leonidio blieb in Erinnerung.
Seither hat sich einiges geändert im arkadischen Ort, nicht nur weil er durch eine Gemeindezusammenlegung Verwaltungssitz wurde. Die vormals abenteuerlichen Gebirgsstraßen im Hinterland wurden asphaltiert, die idyllischen aber verfallenen Schieferdächer im Bergdorf Kosmas durch bequemere aber unpassende knallrote Ziegeldächer ersetzt, die leerstehenden Häuser mit Öl-, Honig- und Gewürzläden für Touristen bestückt. Aber diesmal nähern wir uns ohnehin von der anderen Seite, der Meerseite, an die „Hauptstadt“ an – und siehe da, wir erkennen sie gleich wieder. Vor allem das intensiv griechische Flair dieses arkadischen Landstädtchens auf der südlichen Peloponnes ist das gleiche geblieben, die Geschäftigkeit bei gleichzeitiger Beschaulichkeit, die vielen kleinen Läden, die Kafenia mit den davor sitzenden Männern, im Hintergrund die gewaltige Bergkulisse. Kaum zu glauben, dass Meer, Strand und Hafen nur vier Kilometer entfernt sind. Auch der Tourismus spielt sich dort ab, in Plaka. Doch jetzt, Mitte September, ist in Plaka touristisch nicht mehr viel los, in Leonidio erst recht nicht. Wir wollen hier eine Zwischenübernachtung einlegen auf dem Weg nach Monemvasia, dafür wird es reichen. Schließlich werben gleich zwei „Archontika“ (Herrenhäuser) mit luxuriös-historischem Ambiente. Das „Chatsipanagiotis“ ist schnell gefunden.
Vorerst können wir von der Herberge nur die Straßenfassade und das geschlossene Eingangstor betrachten. Davor ein Korb mit Prospekten, der Hotelbetrieb dürfte aufrecht sein. Nach kurzer Wartezeit auf eine vielleicht gleich auftauchende Person beschließen wir, den benachbarten „Kafetzis“ (Kafenion-Betreiber) zu fragen. Der weiß nichts, holt aber einen anderen heran, während wir erst einmal ein Getränk zu uns nehmen. Der andere verschwindet und kommt nicht wieder. Nach einiger Zeit wird beschlossen, die Telefonnummer auf dem Prospekt zu kontaktieren. Während des Telefonats taucht ein dritter Helfer auf und empfiehlt, zu telefonieren. Die Frau am Telefon verspricht die baldige Ankunft einer zuständigen Person. Nach zehn Minuten erscheint der vierte Helfer, der mitteilt, dass noch mit fünf Minuten zu rechnen sei. Schließlich biegt der fünfte ältere Ortsbewohner auf einer Vespa um die Ecke, auf dem Sozius ein junges Mädchen mit einem Schlüssel. Unnötig zu erwähnen, dass wir nach diesem Pan-Leonidischen Projekt keine Unbekannten in der Stadt mehr sind.
Die junge Rezeptionistin zeigt uns das Haus und zwei Zimmer. Das ursprüngliche Herrenhaus wurde mit enormem Aufwand in ein Hotel verwandelt. Am Ende eines ummauerten, gepflasterten Innenhofs befindet sich das zweistöckige Hauptgebäude mit straßenseitiger Dachterrasse, was einen direkten Blick auf das Stadtgeschehen erlaubt. Inwiefern noch alte Bausubstanz vorhanden ist und was um- oder zugebaut wurde, lässt sich nicht mehr feststellen. Jedenfalls muss es sich um einen mutigen Investor gehandelt haben, so nicht irgendwelche Fördertöpfe angezapft wurden. Bei dieser Buchungslage Mitte September (es wurden schlussendlich an diesem Tag zwei Zimmer belegt) darf ein kostendeckender oder gar gewinnbringender Betrieb ernstlich bezweifelt werden. Aber egal, wir wollen die Herberge ja nicht kaufen, sondern nur hier übernachten. Die Zimmer sind sehr klein und ohne Balkon oder Terrasse, die Badezimmer noch kleiner. Bei der Frage nach dem – in griechischen, selbst einfachsten Unterkünften allgegenwärtigen – WLAN hält die junge Dame triumphierend ein Kabelende hoch. Dass das W in WLAN oder WIFI, wie es hier heißt, für „wireless“ steht, dürfte sich noch nicht herumgesprochen haben. Auch nicht, dass ein Tablet oder Smartphone keine Ansteckmöglichkeiten für ein Netzwerkkabel bietet. Aber schließlich gibt es Wichtigeres als Email oder Internet, und später stellt sich auch noch heraus, dass das offene Haus-WLAN ohnehin auch im Zimmer funktioniert.
Der Zimmerpreis von 70 Euro inklusive Frühstück ist in Anbetracht des winzigen Zimmers, des Ortes und der fortgeschrittenen Saison einigermaßen happig, wenn man bedenkt, dass wir auf dieser Reise schon recht luxuriöse, geräumige Apartments mit eigener Terrasse direkt am Meer um die Hälfte bewohnt haben. Ob man das Frühstück eventuell weglassen könne? Unsere Erfahrungen mit griechischem Hotelfrühstück haben uns schon vor Jahren gelehrt, dass einem Kaffee irgendwo und etwas vom Bäcker immer der Vorzug zu geben ist. Doch nein, leider, ohne Frühstück sei unglücklicherweise gänzlich unmöglich. Seufzend akzeptieren wir und gehen das Gepäck aus dem geparkten Auto holen.
Bei unserer Rückkehr passt uns die Rezeptionistin händeringend ab. Es sei jemand krank geworden und nun gäbe es ein Problem mit dem Frühstück. Ob es uns wohl sehr viel ausmachen würde, auf das Frühstück ausnahmsweise zu verzichten und dafür nur 60 Euro für das Zimmer zu bezahlen? Es gäbe Cafés ganz in der Nähe und einen Bäcker praktisch gegenüber…die Blicke, die wir bei unserem gnädigen Verzicht austauschen, sprechen Bände.
Gegessen wurde bereits, aber für einen Drink und Lokalkolorit gehen wir am frühen Abend in den Ort. Es fängt an zu tröpfeln, zu regnen, in Strömen zu regnen, zu schütten und zu gießen. Gut, dass wir ein Gartenlokal mit Überdachungsplane gewählt haben. Rasch passen sich Besucher und Betreiber der Situation an. Der Kellner, der vom Lokal zum Garten die Straße überqueren muss, tut das mit Tablett in der einen und Regenschirm in der anderen Hand. Alle finden das gut, schließlich soll das Bier nicht verwässert werden. Man rückt zusammen, in die Mitte, weg von den Rändern der Plane. Auch der riesige Flachbildfernseher mit deutscher Bundesliga muss mehr zur Mitte und wird später sogar ausgeschaltet, vom Strom getrennt und abgedeckt. Wir rücken ebenfalls, Reisetagebuch und Elektronikzeugs sind nicht wasserresistent. Das hat den Vorteil, dass wir leichter mit unseren Nachbarn am Nebentisch ins Gespräch kommen. Drei Herren, ein kleiner verschmitzter mit grauen Haaren, ein massiger, etwas jüngerer mit Bart und ein eher unauffälliger, sitzen dort bei ihrem Bier und Pikilia-(gemischte Vorspeisen-)Teller. Sie lassen es sich nicht nehmen, diesen mit uns zu teilen und uns dazu noch auf ein Bier einzuladen. Wir packen unser bestes Griechisch aus, doch es stellt sich heraus, dass der Massige ein passionierter Opernsänger ist, ein Bariton und Wagnerianer, und recht ordentlich Deutsch spricht. So verläuft die Unterhaltung zweisprachig: wir sprechen Griechisch, der beiden anderen wegen und um zu üben, der Sänger spricht Deutsch, unseretwegen, um zu üben und um seinen Tischgenossen zu demonstrieren, dass er es kann.
Dass wir seine Wagnerbegeisterung nicht teilen, ist ein kleiner Rückschlag, doch schließlich einigen wir uns auf Mozart, das passt für uns Österreicher auch besser. Endlich wird der Vorname meines Mannes, Wolfgang, mit Mozart und Freude statt mit Schäuble und Entsetzen assoziert. Hier zeigt sich, dass auch italienische Arien im Repertoire unseres neuen Freundes vorkommen: „là ci darem la mano“ wird gemeinsam angestimmt, die Verführungsarie aus „Don Giovanni“. Die übrigen Gäste machen immer mehr den Eindruck, sich das Fußballprogramm zurück zu wünschen…
Wir finden es schon sehr bemerkenswert, dass ein nicht hauptberuflich (soviel ist offensichtlich) auftretender Sänger allein auf Grund der Opern so gut Deutsch gelernt hat, kennen wir doch Beispiele von weltberühmten, hochbezahlten Diven, die ihre deutschen Rollen wie ein Papagei auswendig lernen, ohne die Worte zu verstehen. Gegen Ende des Gesprächs rückt unser Bariton sogar damit heraus, Rilke und andere deutsche Dichter gelesen zu haben und zitiert Poesie.
Am nächsten Tag besichtigen wir vor der Weiterfahrt den Ort. Auf booking.com sind die Hotelbeurteilungen für das „Chatsipanagiotis“ euphorisch, einzig das Fehlen von Sehenswürdigkeiten wird bemängelt. Dabei hat Leonidio einige schöne, nicht umgebaute oder zumindest schonend restaurierte Archontika zu bieten. Die imposant hochragenden Felswände sind wohl auch ein paar Fotos wert. Sie bilden übrigens ein bekanntes Eldorado für Sportkletterer.
Unseren Wagnerianer sehen wir nur noch kurz von weitem wieder, in ausgebeulten kurzen Hosen auf einem klapprigen Moped vorbeituckernd, das für diese Last zu schwach wirkt. Ist das sein einziges Fahrzeug? Was er wohl beruflich macht? Ob dieser gebildete Mann seine Fähigkeiten einsetzen kann? Beruf, Geld verdienen, Arbeit, Geldsorgen, Krise – all das war am Tag zuvor kein Thema gewesen, einzig Musik und Poesie, Poesie und Musik.