Darling, ich hab das Internet gelöscht!

Das Internet vergisst nie. Heißt es. Tatsache ist: Das Internet ist vergesslich wie eine ältere Tante. Nicht nur aufgrund der vom Europäischen Gerichtshof verordneten digitalen Demenz, wonach Google Links löschen muss, die Betroffenen nicht gefallen (zugegeben: eine pointierte Verkürzung).

Sondern weil Menschen aus den unterschiedlichsten Gründen ändern und löschen, was sie gepostet haben, nicht nur die sprichwörtlichen b'soffenen Partybilder, vor denen uns unsere Eltern schon immer gewarnt haben. Nehmen wir diesen Post von Igor Girkin, einem ukrainischen Rebellenführer, auf dem russischen Facebook-artigen VKontakte, am 17. Juli 2014: „Wir haben gerade ein Flugzeug abgeschossen, eine Antonov 26", samt Videolink zu den Trümmern einer Boeing 777. Kurz darauf stellte sich heraus, dass das abgeschossene Flugzeug der Malaysian Airlines Flug Nummer 17 auf dem Weg nach Kuala Lumpur war und rund 300 Passagiere ums Leben kamen.

Einige Stunden danach tweetete ein Journalist des Christian Science Monitors den Screenshot der Abschussmeldung und stellte den Zusammenhang zum Absturz der MH17 her. Zu diesem Zeitpunkt war der Originalpost auf VKontakte bereits gelöscht. Halt das Recht eines ukrainischen Rebellen mit einer Boden-Luft-Rakete auf Vergessen werden, ganz so wie es sich manche wünschen. Ein alltäglicher Vorgang, den unter anderem alle kennen, die mit URLs digitale Fundstellen in ihren Arbeiten gewissenhaft belegen nur um schon Tage und Wochen danach feststellen müssen, „Uuups, das hätte nicht passieren dürfen" — die charmante Version der Fehlermeldung 404 „Page not found". Manchmal ist es, nicht nur im Fall der MH17, eine Frage weniger Stunden: Vor allem Onlinemedien verbessern gerne erste (fehlerhafte) Versionen ihrer Geschichten ohne Spuren der Veränderung zu hinterlassen.

Wie entkommen wir dem Dilemma der unendlichen Vergesslichkeit des Internets? Im Falle des triumphierenden Posts des Rebellenführers war die „Wayback Machine" des Internet Archives schneller als der Löschfinger: Sie archivierte das Beweismaterial, eine Kopie liegt heute auf den Servern des 1998 gegründeten digitalen Bibliotheksprojekts archive.org in einer früheren orthodoxen Kirche in San Francisco. Ein Glücksfall, denn die Wayback Machine kann letztlich nur einen kleinen Teil des Webs archivieren, darunter auch so scheinbar exotische Seiten wie Girkins VKontakt-Seite, auf dessen mögliche Wichtigkeit einer von tausenden freiwillig zuarbeitenden Bibliothekare hinwies.

Nicht jeder Fetzen Papiers, der seit der Erfindung der Druckerpresse bedruckt wurde, ist es wert um teures Geld in Nationalbibliotheken aufgehoben zu werden. Eben so wenig lohnt es jeden schnell hingeschriebenen Tweet, Post oder später ausgebesserte und wieder gelöschte Seite im Netz zu archivieren. An der Lösung der grundsätzlichen Frage — welche Informationen gehören zum Erbe unserer Zeit? — arbeiten Projekte wie Internet Archive und große Bibliotheken in aller Welt, so auch die Österreichische Nationalbibliothek, die „Schnappschüsse" der .at-Domäne (Websites mit der Endung .at) sammelt.

Für den eigenen Gebrauch kann man sich hingegen bis auf weiteres nur persönliche Strategien zurecht legen, um im Falle einer Diplomarbeit, einer „vorwissenschaftlichen Arbeit" für die Zentralmatura, dem Material für Geschichten wie diese oder auch für einen Streitfall Belege der ursprünglichen Veröffentlichung zu haben. Für kleinere Notizen ist wohl ein Screenshot der einfachste Beleg. Artikel lassen sich mit Hilfe von Apps wie Evernote oder Instagram direkt aus dem Browser gut „ausschneiden" und archivieren, somit auch in der eigenen Sammlung wieder finden — ein Muss für jede systematische Arbeit, bei der später Belege eingefordert werden könnten.

Einen öffentlichen Weg zur Archivierung von Originalseiten bietet das Internet Archive auch privaten Benutzern, die sich eine „Virtuelle Bibliothekskarte" holen: Sie können durch Angabe der URL individuelle Seiten bei archive.org archivieren lassen. Auch Perma.cc, eine Initiative mehrerer Bibliotheken, will ein sicheres Archiv für gefundene Quellen bieten — eben einen permanenten Link zu einer Internetseite, die vielleicht sonst nicht mehr zu finden ist.

(Dank an den New Yorker für die Chronologie der Posts zum Abschuss der MH17)

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