Weltuntergang per Tastatur

Na endlich. Finnland hat den ersten Schuss abgefeuert, der vom nahenden Weltuntergang kündet: Ab 2016 werden die Schülerinnen und Schüler des langjährigen PISA-Primus mittels Tastatur und Display Schreiben und Lesen lernen statt sich mit Stift und Papier abzumühen. Handschreiben (eigentlich ein unsinniger Begriff, denn auch auf Tastaturen wird mit Hand geschrieben) soll künftig nur in Form einer einfachen Art von Versalschrift gelernt werden.

Die Aufregung über diesen mutigen Schritt fand weniger in Finnland als im deutschsprachigen Blätterwald und auf Facebook statt. Zwar räumen Pädagogen ein, dass Kinder aufgrund unterschiedlicher motorischer Entwicklung  Probleme beim Schreibenlernen (und damit auch beim Lesenlernen) haben. Aber dass man diese mit digitalen Hilfsmittel verbessern könne: Nein, diese Einsicht ess ich nicht. Besser die Schreibschrift „vereinfachen", „früher mit dem Üben anfangen", „größer schreiben", so die Rezepte.

Natürlich ist der Übergang vom Primat der Schreibschrift zum Vorrang des Schreibens per Tastatur eine nachhaltige Änderung unserer Schreibkultur. Außerhalb der Schule ist dies längst erfolgt: Wir chatten und schreiben Mails, Tweets und Facebook-Posts statt Briefe oder Postkarten — es lässt sich argumentieren, dass soviel wie noch nie geschrieben wird, aber halt nicht mit Stift und Papier, sondern auf den digitalen Postkarten und Anschlagbrettern der Welt.

Kinder beginnen auf Tablets und Smartphones lange vor dem Schulalter mit Schrifterwerb und Lesefähigkeit. Die kognitiven Fähigkeiten dazu eilen den motorischen voraus. Seit den 80er Jahren weiß man, dass Kinder mit Down Syndrom — die sonst später und meist schlechter als andere Lesen und Schreiben lernen — am PC schon vor dem Schulalter Schreiben lernen können. Naheliegend (aber ignoriert), dass diese Einsicht für alle Kinder gilt. Und vielleicht, vielleicht, liegt eine wesentliche Ursachen des in den letzten Jahren immer lauter beklagten funktionalen Analphabetismus genau darin, dass die betreffenden Kinder beim Schreibenlernen nicht mithalten konnten und dies in der Folge in allen anderen Lernbereichen Nachteile brachte.

Viele Einwände lassen sich sachlich abwägen, wenn wir bereit sind auf die Weltuntergangskeule zu verzichten, eine Auswahl:

— Verlust der individuellen Handschrift: Diese ist entgegen allgemeiner Annahme nicht das deklarierte Ziel des Schreibenlernens. Schulschriften sind genormte Schriften, wer abweichend schreibt wird mit schlechter Note bestraft. An sich logisch: Denn nur so können andere das Handgeschriebene auch Lesen.

— Schreiben von Hand verankert Information ganz anders in unserem Hirn. Möglich, aber auch Schreiben von Hand mit Tastaturen hat solche Effekte, die bisher so gut wie nicht erforscht werden (wie auch, wenn es an der Schule nicht passiert).

— Der Verlust feinmotorischer Fähigkeiten. Auch durch die Nutzung unserer digitalen Gadgets erfordert feinmotorische Fähigkeiten (wir erinnern uns an die Angst vor dem Handydaumen). Aber vor allem: Lernen wir jetzt Handschrift der Schrift und Kommunikation oder der motorischen Übung wegen?

— Wenn einmal der Strom ausfällt... arbeiten wir mit dem Akku unserer Smartphones, Tablets, Notebooks weiter, bis er wieder da ist. Auch Papier und Stifte sind Produkte der Hochtechnologie, ohne Strom geht in unseren Gesellschaften gar nix, und fällt Strom einmal wirklich großflächig aus schaffen es Kinder und Lehrer nicht einmal ins Klassenzimmer.

Der journalistischen Sorgfalt halber diese persönliche Offenlegung: Meine eigene wunderbare Schreibsozialisation fand vor gut einem halben Jahrhundert mit Lehrer Josef Webers Setzkasten – http://derstandard.at/1220457472305 – statt. Klappte man die Schachtel auf, präsentierte sich eine Art analoger Schreibcomputer: Oben Buchstaben zum Herausnehmen, unten reihenweise Platz zum Auflegen. Kinder reihten Buchstaben an Buchstaben aneinander, um daraus Worte und Sätze zu formen. Ganz so wie mit einer Tastatur. Bald in einem fernen Land, das sich traut was Neues auszuprobieren.

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