Könnte man das ganze Leid, das den Kindern auf dieser Welt zugefügt wird, fühlen: Man würde auf der Stelle verrückt werden. Früh werden sie in die nackte Erwachsenenwelt gedrängt, sie müssen um ihr Überleben kämpfen und sind am Ende doch die Verlierer. Ohne ein Zuhause, ohne Menschen, die sie lieben leben Millionen Kinder weltweit auf der Straße. Es wird geschätzt, dass es auf der ganzen Welt 100 Millionen Straßenkinder gibt, die keinen Kontakt mehr zu ihrer Familien haben. Die meisten Straßenkinder leben in den Großstädten Lateinamerikas – die Jüngsten sind erst fünf Jahre alt.
Da zählt nur das Recht des Stärkeren, da geht es um das nackte Überleben. Da bleibt keine Zeit zum Träumen, zum Spielen, um ein Kind sein zu können. Kinder führen keine Kriege, aber sie sind davon betroffen. Sie sind klein und schwach. Es sind kleine Hände, die sie nur im Zorn gegen die Ungerechtigkeit ballen.
Wenn schon die Erwachsenen ihre Verzweiflung oft nur noch mit Alkohol betäuben, was bleibt den Kindern?
Ich war nicht das erste Mal in Venezuela, aber jedes Mal war es ein Eintauchen in eine andere Welt. Man spürt sofort, dass das Überleben da nicht Glück bedeutet. Man muss sehr aufpassen, vor allem als Europäer, wohin man geht, was man tut, und wie man denkt. Da ist man kein Tourist, da ist man für viele der Schlüssel zum Überleben. Zur falschen Zeit am falschen Ort – und dein Abenteuer ist zu Ende, Gringo. Trotzdem liebe ich Caracas, Venezuela, und die Menschen hier. Man lebt heute, morgen bist du vielleicht schon tot.
Aber in dieser Stadt lernte ich, was Angst bedeutet, in dieser Stadt sah ich Kinder im Dreck und Müll leben, und konnte mich nur abwenden. Ich suchte ein Abenteuer in Venezuela, doch was ich hier sah, war die Hölle. Nachts sind die Berghänge rings um die Stadt hell erleuchtet. Dort leben die Ärmsten der Armen. Menschen, die ihre Behausungen an den Berghängen aneinander reihen, ohne Zugang zu einer permanenten Wasser- und Elektrizitätsversorgung, ohne befestigte Straßen und ein funktionierendes Abwassersystem und mit der höchsten Kriminalitäts- und Gewaltrate der Welt. „Barrios“ heißen diese Barackensiedlungen. In der Hölle geht es nicht schlimmer zu.
Das Barrio Petare ist das Größte in ganz Südamerika, 1, 5 Millionen Menschen vegetieren da auf engstem Raum. Aber die Armut und die Kriminalität ist nicht das einzige, was diese Menschen immer wieder mit voller Wucht trifft. Schlammlawinen, ganze Flüsse reißen nach einem starken Regen alles mit sich.
Ihre Wäsche waschen die Menschen hier in einem nahegelegenen Rinnsal, der stehendes und stinkendes Wasser führt. Kinder wie Erwachsene haben Pusteln auf der Haut und sind von Krätze befallen, einer ansteckenden und juckenden Hauterkrankung, bei der sich Milben in die Haut graben und weiter vermehren.
Ganze Familien sind davon betroffen. Sie leben in Pappkartons- und Hoffnungen und Träume erfüllen sich nie.
"Hunger?" erzählte mir Manuel, der in einer dieser Barrios lebte, "Hunger", sagte er leise, "habe ich manchmal nach Liebe, weißt du. Ich habe keine Eltern mehr“.
Manuel ist zwölf Jahre alt, seine Zähne verrottet, schwarz und lückenhaft, sein Blick traurig, dann wieder stumpf und leer. Sein Tätigkeitsfeld ist die Müllhalde, der Auswurf aus der Welt da unten wo das Paradies ist, wo die Reichen leben. Im Sommer hat es hier bis zu achtzig Grad und es stinkt erbärmlich.
Ich halte mir ein Taschentuch vor das Gesicht, der Gestank ist fast unerträglich. "Gestank, welcher Gestank“? Manuel nimmt einen verdreckten Stofffetzen aus seiner Hosentasche, tränkt ihn mit einer Flüssigkeit aus einer alten Colaflasche, und presst ihn auf die Nase.
Er atmet stoßweise ein und hält die Luft an. "Aufbereiteter Klebstoff". Er lacht und Tränen fließen aus seinen Augen. "Fressen kann man vieles, ich habe einen guten Magen." "Einmal fand ich einen Karton voller alter Big Mac`s, höchstens zwei- drei Tage alt."
Er lächelt selig in Erinnerung. "Das war wie ein Festessen, leider hatten aber die Ratten die Hälfte schon erwischt. Die Ratten sind hier das schlimmste, wenn du schläfst, dann essen sie deine Augen." Er hustet und schnüffelt gierig den Klebstoff aus seiner Cola-Flasche. Für ihn ist es ein Tor zum Paradies und der Freiheit.
Ich hatte es einem Freund aus Caracas zu verdanken, dass ich kurz in diese Welt schauen durfte, ohne ausgeraubt zu werden. Aber ich war danach traurig, sehr traurig. Jedesmal, wenn ich aus meinem reichen Europa hierherkomme, weine ich im Herzen. Ich sehe kleine Kinder, mit schmutzigen erwachsenen Gesichtern und traurigen Augen. Sie rauben dich aus, wenn man nicht aufpasst, sie stehlen, um zu überleben. Als Gringo ist man extrem gefährdet, sie scheißen auf dein Mitleid. So ist das. Das muss man akzeptieren, sonst muss man zu Hause bleiben, im sicheren Heimatland.
Abenteuer, von dem wir so schön träumen, die kann man in Venezuela erleben. Aber, es ist ein wirkliches Risiko, und man erlebt eine Welt, die das Herz trifft. Mitleid ist nicht erwünscht, Mitgefühl schon, auch wenn du von diesem Abenteuer nicht mehr zurückkommst. Das ist das Risiko eines wirklichen Abenteuers. Wenn man es erlebt und überlebt, wird man nicht mehr derselbe sein.
Es sind wir selbst in unserer unermesslichen Gier nach mehr, und deshalb müssen überall auf der Welt schon kleine Kinder in der Hölle leben. Man kann sich abwenden, auch in einem Magic Life Club Urlaub machen- und es dann als großes Abenteuer verkaufen.
Aber das Glück, das findet man da draußen, wenn man mit den Menschen fühlt.
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