Es war 1999. Ich besuchte für eine Tageszeitung ein Joe-Cocker-Konzert in Villach. Meine Kritik fiel vernichtend aus. Noch heute bin ich überzeugt: zu Recht.
Viele Fans des nun verstorbenen Sängers sahen es anders. Eine Flut von empörten Leserbriefen war die Folge. In einigen wurde ich auch persönlich angegriffen. Nicht arg eigentlich. Dennoch wurden diese Briefe aussortiert und nicht gedruckt. "Beleidigen müssen wir uns nicht lassen", erklärte mir damals mein Chefredakteur. Ich fand das gut.
Dass dann die Konkurrenzzeitung die Briefe, in denen ich namentlich kritisiert wurde, veröffentlichte, sorgte für einige Aufregung.
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Selbstverständnis
Mit diesem Verständnis für die Beziehung zwischen Redakteur und Leser wuchs ich in meinen Beruf hinein: Wir, die Redaktion, durften alles - was das Medienrecht zuließ. Die Leserschaft durfte auch alles - was wir zuließen.
Während wir beim kleinsten Ansatz von Zensur gegenüber unserer Arbeit zu Recht aufschrien, übten wir beim Leserfeedback wie selbstverständlich und täglich Zensur aus. Der Leser konnte Kritik üben, freilich! Aber nicht an uns Redakteuren. Und wenn, dann nur in homöopathischen Dosen. Es war eine Machtdemonstration der Redaktion, die von den Lesern konsequent als „die Menschen da draußen“ sprach.
Von der anderen Seite lernte ich das System kennen, als ich einmal einen Leserbrief an eine Wiener Stadtzeitung schrieb, in dem ich unzählige inhaltliche Fehler in einem Text auflistete und mit der Überlegung schloss, dass die beiden Schreiber (heute arrivierte Redakteure bei heimischen Magazinen) vielleicht doch einen Beruf wählen sollten, bei dem Denken nicht so wichtig wäre. Diese Passage wurde gestrichen. Wie gesagt: bis hierher und nicht weiter.
Vernebelter Blick
Soviel zur Vorgeschichte. Und dann kommt solcher Art sozialisierten und von sich überzeugten Redakteuren das Internet in die Quere - im Schlepptau das moralische Souterrain vulgo Social Media. Na, mehr brauchst nimmer.
Wenn nun Sven Gächter, stellvertretender Chefredakteur des "Profil", über den internetbedingten Verfall der Sitten schreibt, ist das nichts Anderes als der verklärt-vernebelte Blick des Großvaters auf eine Jugend, die sich früher angeblich besser zu benehmen wusste. Es ist Ausdruck des Unwillens des publizistischen Establishments, eine neue Form des Diskurses anzunehmen.
Gut, Leser schimpfen und kritisieren heute vielleicht mehr als früher. Aber meiner Meinung nach nicht, weil sie böser geworden sind. Sondern, weil sie merken, dass sie mit ihrer Kritik, im Unterschied zu früher, heute „durchkommen“. Es gibt keinen redaktionellen Rundordner für Twitter- und Facebook-Feedback.
Dass mit Sven Gächter, Gernot Bauer und Christian Rainer zuletzt gerade drei Redakteure des "Profil" mit Internet-Kulturpessimismus auffällig wurden, ist vermutlich Zufall. Meiner Erfahrung nach denkt die Mehrheit der heimischen Printredakteure „über 40“ ähnlich. Sie fühlt sich tendenziell gestört von einem Publikum, das mündig geworden ist. Das kleinste Fehler gleichermaßen unbarmherzig aufzeigt wie Akte von Selbstherrlichkeit. Das dabei gerne auf den guten Ton pfeift und untergriffig agiert.
So liefert die Leserschaft den Fans alter Hierarchien wenigstens etwas Munition. Es lassen sich schön formulierte Abhandlungen zum Thema „Das Internet ist böse“ schreiben. Die wehleidig anmutende Manieren-Debatte kaschiert freilich den Kern des Problems: die offengelegte Fehlbarkeit des Redakteurs und der damit einhergehende, schmerzhaft empfundene Monopolverlust im Nachrichten-Erklär-Universum.
Die harsche Art, mit der dies bisweilen geschieht, könnten Redaktionen als Basis für Selbstreflexion heranziehen: Was haben wir in den vergangenen Jahrzehnten falsch gemacht, dass sich so viel Zorn und Häme angesammelt haben?