Berufung mit 66

Viele Jahre übte ich mich in gesellschaftspolitischer Demut, indem ich -  miserabel bezahlt - Kurse an der Volkshochschule hielt zum Thema: Wie bewerbe ich mich richtig? Zielgruppe hätten Arbeitslose sein sollen, denen das Gelernte den berufliche Wiedereinstieg erleichtern sollte. Interessanter Weise nahmen anstatt Arbeitslosen eher MaturantInnen mit ihren Eltern teil... Leute also, denen es ohnehin nicht so schwer am Arbeitsmarkt fiel. Diese Seminare waren gefördert von der Arbeiterkammer und die Kursgebühr bestand lediglich aus einem Unkostenbeitrag.

An einem Abend tauchte eine ältere Frau namens Savranek auf. Ich fragte: "Ja, was machen Sie denn da?" Sie stellte sich vor als Pensionistin. Ihr Leben sei so langweilig und sie wolle etwas arbeiten... Eine eher kleine Person, unscheinbar, mit leiser Stimme, unvorteilhaft gekleidet, ein hoffnungloser Fall. Egal, sie wurde eingeladen, in einem Rollenspiel eine Bewerberin bei einem Vorstellungsgespräch zu mimen. Dabei stellte sie sich äußerst unvorteilhaft dar, indem sie all das aufzählte, was sie nicht konnte. "Frau Savranek, Sie müssen sich genau gegenteilig präsentieren! Sagen Sie doch, was sie alles können, sonst kriegen sie nie mehr einen Job im Leben! Und das auch noch so laut wie nur möglich!" riet ich ihr.

Nach Wochen hatte ich wieder einen Kurs bei der VHS und sah plötzlich die alte Savranek hinter dem Anmeldepult sitzen. Ich wiederholte meine erste Frage an sie "Was machen Sie denn da?" Sie erklärte stolz: "Ja, Herr Doktor, ich habe genau das befolgt, was sie mir rieten, mich gleich bei der Volkshochschule beworben und die haben mich genommen!". Ich war sprachlos und bewunderte sie, wie sie mit ihren 66 Jahren flott auf die Tastatur des Nixdorf-Terminals einhämmerte am echen "hot-spot" der Schule, wo sich die Leute anstellen mit all ihren Fragen, Extra-Wünschen und mühsamen Beschwerden.

Ich war stolz auf sie und auf mich. Die alte Savranek wurde zu einem meiner größten Beratungserfolge, weil sie nach nur ein paar Minuten Beratung viele Jahre beruflichen Erfolg einheimste. Sie ging erst mit 75 zum zweiten Mal in Pension und war lange Zeit ein Faktotum und der Fels in der Brandung des Schulungs-Instituts. Wie Udo sang: "Mit 66 Jahren da fängt das Leben an. Mit 66 ist noch lange nicht Schluß!"

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Silvia Jelincic

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Reinhard Hödl

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fischundfleisch

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