Jetzt haben sie den Salat. Das Gegenteil von den Voraussagen des Vortags ist eingetreten. Selbst die Buchmacher und die Börsenspekulanten haben sich geirrt ebenso wie die EU-Größen. Nun ringen alle um Erklärungen. Gescheite alte Leute aus Politik, Politologie, Philosophie, Meinungsforschung, Schriftstellerei und Journalismus stellen ihre Fassungslosigkeit zur Talk-Schau. Es wird permanent behauptet, niemand wisse wie es nun weiter ginge und was noch alles passieren würde.
In all dem argumentativen Chaos bleibt eine Disziplin außen vor, die schlüssige Antworten geben könnte: die Psychologie. Hätte sich der britische Premier vor seiner Entscheidung für die Volksbefragung ein paar Nachhilfe-Stunden in somatischer Psychologie gegönnt, wäre er nicht in die Falle getappt. Minimal-Kenntnisse der Hirnanatomie reichen aus, um zu wissen, dass das Kleinhirn als ältestes Hirnstruktur so etwas wie das Notstromaggregat des Organismus ist. Nach einem Unfall etwa, bei dem der Cortex verletzt wird, übernimmt es automatisch die Atemfunktion. Schluck- und Keuchatmung setzen ein. Das Kleinhirn agiert wie ein Wächter, der Gefahr frühzeitig wittert und Alarm gibt, wenn der Organismus bedroht wird. Sobald dieses Reptilienhirn anspringt, übersticht es als höchste Instanz die beiden anderen Regionen: das Zwischenhirn, wo Gefühle entstehen und auch das Großhirn, das fürs Rationale (Denken, Wissen etc.) zuständig ist.
Nationalistische Parteiein, fundamentalistische Eiferer, separatistische und populistische Bewegungen haben meist auch keine Ahnung von Psychologie. Sie aktivieren rein instinktiv den Angstmechanismus des Kleinhirns in breiten Bevölkerungsschichten. Damit wird eine reflexartige Abwehrreaktion ausgelöst, die keinen empathischen Zwischenhirn-Haltungen folgt und allen rationalen Großhirn-Argumenten hierarchisch übergeordnet und damit überlegen ist.
Der Mantraartige Abgesang vieler nicht vor Reflexionsvermögen strotzender Intellektuellen von der Auflösung der EU wird nur dann zur Realität, wenn in jedem Land Austrittsreferenden stattfinden, bei denen genügend kollektive Ängste geschürt werden.
Mit diesen Basiskenntnissen der Hirnphysiologie kämen wir schon ein schönes Stück weiter. Aber sie reichen nicht aus, breite regionale, nationale oder gar kontinentale Entwicklungen vorherzusehen. Wenn wir uns aus psychohygienischer Sicht einen Blick in die europäische Zukunft gestatten, so kommen wir zu mehreren genau gegenteilige Prognosen der meisten medial Befragten:
Der Brexit schwächt die Union: Falsch! Wenn jemand aus einer Gemeinschaft ausscheidet, tendiert diese dazu, zusammenzurücken. Der Reformwille und die Umsetzungsbereitschaft steigen.
Die EU schafft es auch in Zukunft nicht, Flüchtlings-Verteilungs-Gerechtigkeit herzustellen. Falsch! Durch das Brexit-Motiv "Zu uns kommen zu viele!" lernt die EU, dass hier Solidarität eine Frage des Überlebens ist und das Thema wird zum "Burner".
Der Domino-Effekt droht! Auch falsch! In der Zeit, in der ein interner Domino-Effekt mit Schottland und Irland auf dem Spiel steht, wird kein anderes Land es wagen, ein Referendum auch nur anzudenken. Der schwarze Freitag war vielleicht die Geburtsstunde von "Small Britain"!
Die Union wird schnell ein Zusammenarbeitsprogramm ausarbeiten. Genau das Gegenteil wird eintreten: Sie wird sich möglichst lange Zeit lassen, um die ganze Mühsal zu zelebrieren. Wahrscheinlich erhält UK ein Assoziierungs-Paket angeboten so in etwa auf dem Niveau der Türkei...
Beitritts-Verhandlungen werden nun schwierig: ganz falsch! Die europ. Union muss nun zeigen, dass sie nach wie vor attraktiv ist. So wird der Eintritt von Serbien, Albanien etc. und eventuell von Schottland erleichtert.
Die wirtschaftlichen Folgen für Europa sind schmerzhaft: Weit weniger als für England! Der britische Verlust des Binnen-Anschlusses ist unvorhersehbar groß und vielfältig in seinen ökonomischen Wirkungen. Die EURO-Union wird beim kleinsten negativen Effekt die Engländer am "Nasenring vorführen", um aus purem Selbsterhaltungstrieb zu demonstrieren, was Renegaten blüht.
Die Brüsseler Verhandler werden sich schnell um eine konstruktive Kooperation mit der Insel bemühen: Nein, weder schnell, noch konstruktiv und recht "bürokratisch bemüht". Diese Demütigung steckt niemand ohne weiteres weg!
Wenn nur 70-80% dieser Vorhersagen eintreten, geht daraus eine signifikant gestärkte EU hervor. Wir werden es sehr rasch sehen!
Die psychologische Perspektive ist durch die Entspsychologisierung der Gesellschaften so Ende der 80er Jahre verloren gegangen. Der dadurch entstandene "blinde Fleck" verhindert, dass wir sehr viele öffentliche Phänomene nicht richtig interpretieren können. Aus dem Fehlen der gesellschaftlichen "Psycho-Analyse" sind wir auch schwer behindert an vorausschauendem Denken und prophylaktischen Handlen. Es wäre überlegenswert, eine neue Wissenschaftsrichtung aufzubauen, die "gesellschaftspolitische Psychiatrie".