Die Gründe unserer "Mega-Manie"

Baudelaire formulierte mit "Jede Stunde verletzt, die letzte tötet!" jenen berühmten, gnadenlosen Satz, den wahrscheinlich nur Masos gern hören. Dennoch wissen wir alle, dass er stimmt. Selbst noch so Gläubige können dem Umstand körperlichen Verfalls nichts entgegem setzen. Die Ausweglosigkeit und Unlösbarkeit dieses Abgangs-Stigmas bringt fast jede/n dazu, sich in Ablenkung und Überlebens-Phantasien zu suhlen. "Gestorben muss werden", wie wir aus Wien sagen. Und alle wollen lange leben, aber nicht alt werden.

Epiktet schlägt in seinem "Handbüchlein der Moral" vor, sich jeden Tag als den Letzten zu denken. Das sei gesund, meint er. Die Kehrseite der Medaillie sieht so aus, dass jedes Verdrängen, Verschweigen, jede Ablenkung davon, jeder Fluchtversuch psychisch krank macht. Die US-amerikanische Gesellschaft bietet dazu hervorragendes Anschauungsmaterial. Dort darfst du nicht einmal sagen "He or she died", sondern "He/she passed the way". 90-Jährige färben sich die Haare hellblau und tanzen wie Teenies... Am Tod anderer weiden sie sich: Todesstrafe, Action-Filme mit Autos in Feuerbällen, hemmungslose Zerstörungswut, Blutorgien in Filmen und genüsslich beobachtetes Sterben anderer womöglich weit weg in Entwicklungsländern.

Der Traum vom "ewigen Leben" hier auf Erden ist noch lange nicht ausgeträumt...

Wenn also Alters-Ängste unbesprochen, verheimlicht, unbearbeitet, verdrängt werden, so führt dies gesellschafts-psychologisch zu individueller und kollektiver existenzieller Überforderung. Dem begegnen wir eben mit einer Vielzahl von Pseudo-Lösungs-Versuchen. In der Welt-Zivilisation finden wir in den drei globalen Meta-Faktoren "Globalisierung", "Tele-Kommuikation" und "Werte-Reduktion" die drei Treiber "Omnipräsenz", "Omnipotenz" und "Lebensgier".

Du kannst überall hin reisen, bist vertreten in vielen Medien, arbeitest in einem Weltkonzern usw. usf. Omnipräsent durch Globalisierung! Das heißt, du bist überall.

Mit dem Handy und dem Tablet haben wir ein das mächtigste Werkzeug der Welt in unseren Händen. Damit kann jeder Mensch nahezu alles machen. Ominpotenz durch Apps!

Und weil niemand sterben will, opfern wir alle möglichen Werte auf dem Altar der Lebensgier: Ich will so viel wie nur möglich erleben, so oft wie nur möglich leben, so lange wie es geht und mit allem drum und dran. Da stören mich Tugenden und Werte doch nur... Wir scheinen auf dem Weg in eine wertelose Gesellschaft zu sein. Hoffenlich wird daraus nicht eine wertlose Gesellschaft. Dann würde der Spruch von Alois Brandstätter real werden: "Diese Gesellschaft gibt mir zu denken. Das ist alles, was diese Gesellschaft mir gibt." Eine "Value light"-Gesellschaft also, in der weder ideologisches, politisches, ethisches, moralisches, familiäres und religiöses "Marsch-Gepäck" mitgeschleppt wird.

Die Gründe für unser mega-manisches Denken und Handeln dürften existenzial-psychologisch aus auf dem Boden nicht-funktionierender Ur-Angst-Verarbeitung wuchern.

In Gesellschaften, in denen hingegen über das Altwerden räsoniert wird, schlägt dieser Wahnsinn weniger durch. Etwa in der Wienerischen. Hier im Osten Österreichs (ohnehin eine Tautologie, weil Österreich ja den Wortstamm Ost-Reich in sich führt) raunzen wir über den Unbill im Leben, weil wir es ja Jahrhunderte, Jahrtausende verspürt haben: immer bedroht von Mongolen, Hunnen, Magyaren, Türken und allem möglichen Gesindel, die mordend, vergewaltigend und brandschatzend uns mit unserem eigenem Verderben konfrontiert haben. Die wenigsten wissen, dass entlang des Rennwegs in Wien schon die Holz-Palisaden der Römer vor 2000 Jahren gestanden sind, um in die Donau-Auen bei der jetzigen Ungar-Gasse die Barbaren auszuspähen.

Dieses ewige Leid dürfte in unser genetisches Material eingesunken sein und veranlasst uns zum Sudern. Diese Grießkrämigkeit und wehleidige Zelebrierung von Hilflosigkeit könnte eine Art "Tröpfen-Kattharsis" uralten Leides sein.

Das türkische Fatum "Es muss was geschehen - da kann man aber nichts machen, aber es darf nichts passieren" bezeugt eine Art Schutzhaltung vor übergroßem Aktionismus. Wenn du in die Vorstadt-Beisln gehst, triffst du vielleicht schon um 9h die Typen, die den ganzen Tag "den Schmäh laufen lassen". Da stehst du schnell auf der Schaufel und kommst nicht mehr runter. Den ganzen Tag sinnloses Geschwätz aus Spass und Verzweiflung. Irgendwie meditativ und zusätzlich nihilistisch: Die hoffnungslose Sinnosigkeit als Auto-Therapie! Am Abend singen die noch Lieder vom Sterben, von den Engerln und dem Himmelvater. Dann steigen sie ins Bett und sagen: "Sehr erfolgreicher Tag heute!" So interpretiert verfolgen die Wienerischen ein funktionierendes Psycho-Therapie-Konzept und daher hatte auch Dr. Freud keine Chance hier "am Grund".

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Herbert Erregger

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Silvia Jelincic

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