Plädoyer für einen rationalen Humanismus

Ein Wunder der Natur ist die Verwandlung der Raupe in den Schmetterling. Vom langsamen Kriechen im zweidimensionalen Raum kommt es nach fünf bis sechs innerlichen Abwehrkämpfen zum Sieg der Schmetterlingszellen. Dann entschwebt er in die dritte Dimension. In einer ähnlichen Lage befindet sich die Welt nach Corona. Unglaublich vieles wird sich verändern: unsere Werte, die Weltsicht, das Konsumverhalten, der internationale Zusammenhalt anstatt der Verteilungskriege und so weiter und so fort.

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Auch unsere Art des Denkens: der gewohnte Umgang mit komplizierten Themen wird schwenken zur Bewältigung der immer komplexer werdenen Gegebneheiten. Den Meisten ist der Unterschied zwischen Kompliziertheit und Komplexität aber nicht ganz klar. Manche kennen eventuell noch diese Unterscheidung: Kompliziertheit verlangt danach, die Dinge richtig zu tun, während Komplexität heißt, die richtigen Dinge zu tun.

Nun leben wir in einer Welt außer Kontrolle. Da reicht es einfach nicht mehr, rational vorzugehen, weil die Komplexität derart zunimmt, dass wir zu Recht von der VUCA-Welt sprechen: Diese zeigt sich volatil (unbeständig, sprunghaft, schwankend), unsicher (unvorhersehbar), complex oder auch chaotisch und ambiguus (mehrdeutig, ambivalent).

Dieser Zustand - und dazu braucht man nicht prophetisch zu sein - wird noch Jahrzehnte andauern. Klimakrise, Wertewandel, Pandemien, Globalisierung, sowie Digitalisierung (inkl. künstlicher Intelligenz) sind nur fünf Faktoren, die erstmals in der Geschichte so grenzenlos wie heute um sich greifen. In Unternehmen versucht das Management, der Komplexität mit kognitiven Mitteln beizukommen. Auch die Beratungs-Gilde schließt sich hier an. Das funktioniert aber nicht, wie die vielen Berater-Witze anschaulich belegen.

Frederick Laloux bringt in seinem zukunftsweisenden Buch "reinventing organisations" ein anschauliches Beispiel für den Unterschied zwischen Kompliziertheit und Komplexität: "Ein Flugzeug zu bauen ist kompliziert: Es gibt tausende Teile, die alle klar beschrieben und richtig oder falsch ein- und ausgebaut werden können. So wird der Flieger zusammen gebaut und demontiert. Ein Teller mit Spaghetti ist überhaupt nicht kompliziert, aber höchst komplex: Zieht man nur eine Nudel heraus, so kann kein Computer der Welt berechnen, wie sich der Haufen verändert und niemand bringt je mehr die Nudel in ihre Ausgangslage zurück.

Schon seit dem guten Taylor sind wir darauf trainiert, die Wirtschaft rational zu sehen, eben alle Abläufe zu optimieren und zu rationalisieren. Alles was den Produktions-Kreislauf stört, wird ausgeblendet: das Private, weibliche Haltungen, die Gefühlswelt, unsere Körperlichkeit und auch das Intuitive. Wir nutzen mit diesen Einschränkungen in Betrieben nur ein Sechzehntel der menschlichen Kapazität!

Manche Manager behaupten zwar, dass sie die meisten Entscheidungen aus dem Bauch heraus fällen. Aber sie können überhaupt nicht sagen, nach welcher Methode sie vorgehen. Meistens haben sie gar keine. Auch in der Psychologie hat sich die kognitive Seite durchgesetzt gegenüber den intuitiven Ansätzen. (Buchtipp als Gegenpol: Prof. Gerd Gingerezer "Bauchentscheidungen";)

Auf der komplizierten Seite steht als Lösungsanspruch die Effizienz, auf der anderen die Effektivität. Antizipiert wird einerseits "das Erwartbare zu erwarten" gegenüber andererseits dem Anspruch "das Unerwartete zu erwarten". Als Lösungsansatz steht der Verstand gegenüber der Intuition. Berechtigt ist kognitives Management mit seinen Zahlen, Daten, Fakten in der Prozessorganisation, der Finanzplanung, im Qualitäts-Management, in Steuerfragen, bei den meisten administrativen Abläufen usw. usf. Auf diesem Gebiet sind wir total vorbereitet. Alle ökonomischen Lehrstühle sind darauf spezialisiert die Studierenden im rationalen Denken zu schulen. Und immer öfter stellt sich heraus, dass die meisten ökonomischen Theorien nicht haltbar sind, weil dieses Hirn-Denken insgesamt die heutige Welt unzureichend definiert.

Wo sind komplexe Situationen vorherrschend und erfordern daher intuitive Techniken? Überall dort wo es um menschliches Zusammenleben und um Zukunftsfragen geht. Dort wo Konflikte nisten, Intrigen lauern, Krisen allgegenwärtig sind, wo sich eine Kultur wandeln muss, immer wenn der Zweck der Übung verloren ging, wo Generations-Nachfolgen anstehen oder stattgefunden haben, wenn in Organisationen oder Firmen kritische Personalentscheidungen zu fällen sind, auch immer wenn das Kerngeschäft durch Innovationen verloren gingen, neue Rollen infolge von Technologiewandel verteilt werden müssen und vor allem bei der strategischen Zukunftsplanung.

Intuitive Techniken gibt es viele, aber nur ganz wenige sind Usus, wie etwa das Brainstorming. Aber sind wir doch ehrlich: Wann haben die meisten von uns daran teilgenommen? Es gibt außer den Techniken des Visions-Zeichnens, der Rollenspiele, der Kärtchen-Arbeit im Sesselkreis, der Aufstellungsarbeit zu Organisations-Fragen noch etwa 60 bis 70 weitere sogenannte Mikro-Skills, die den meisten Managern total unbekannt sind. Meine beiden Lehrmeister sind in diesem Zusammenhang seit 3 Dekaden Prof. Dr. DI Georg Turnheim (Buch „Chaos und Management“) sowie Nic Turner (Buch „The way of nowhere“) seit 10 Jahren.

Ohne diese Komplettierung unserer Management-Kultur können wir niemals die allgegenwärtige Komplexität unseres Wirtschaftslebens oder gar die Weltrettung bewältigen (sh Prof. Otto Scharmer ganz aktuell in seinem Gaja-Projekt). Diejenigen, die sich darin schulen, werden alle anderen weit überlegen sein. Davon gehe ich aus.

Die Dialektik zwischen Freiheit und Kontrolle

Wer sich mit der modernen Zeit einlässt, erhält das Gefühl von großer Freiheit:

• instrumentelle: die Wahl zwischen hunderten Smartphones, tausenden Apps

• private: unzählige potenzielle PartnerInnen warten anstatt nur einer Ehe!

• mobile: Reisen, Verkehrsmittel, autonome Autos, bald sogar Flugtaxis

• digitale: Robotik, PCs, Internet, Messenger, social medias ohne Ende

• spirituelle: Religionsangebote, Meditation, Yoga, Esoterik, Schamanismus

• mediale: Informationsdienste, Suchmaschinen, Wiki bis hin zu Fake-News

• kontrollierte: Überwachung, Schutzmechanismen, Cybersicherheit

• ökonomische: Prozesskontrolle, Berechnungssysteme, Management

• …

Die Flut von Wahlmöglichkeiten bietet Freiheit, wie sie noch nie im Weltgeschehen bestanden hat. Gleichzeitig bindet sie unsere Aufmerksamkeit und macht uns abhängig von den Medien, die als Betreiber der Service-Angebote im Hintergrund „wabern“. Vor allzu viel Freiheit geraten wir unter völlige Kontrolle. Man nennt unsere Jugend die Generation des „gebeugten Hauptes“. Ein Großteil des Tages wird dabei verbracht, über kleine gläserne Elektronik-Quadrate zu streicheln. Kein Wunder, dass allmählich Abwehr, Wut und Auflehnung gegen die allgegenwärtige Gängelung aufkommt. Wutbürgertum, Leugner-Bewegung, soziale Spannungen in vielen Gesellschaften resultieren wahrscheinlich daraus?!

Bietet man einer Gruppe von Menschen an, all das für eine Weile zu streichen und einfach die Leere zu erdulden, so löst dies große Unsicherheit, ja Angst aus. Ich habe diesen Zustand mit privaten Seminar-Gruppen ca. 400 Mal durchlebt. Meine sogenannten Wanderseminare waren konzipiert in einem absolut leeren Format. Weder Organisation noch Führung, ganz ohne Vorgaben, Zielen und Inhalten. Einfach treffen zur Vorbesprechung und alles andere entscheiden die Teilnehmenden im Konsens. Einzig mindestens eine Selbsterfahrungsgruppe wurde angeboten zur Psychohygiene aller. Die Dauer variierte von eineinhalb Tagen bis fünf Wochen. Ebenso wie die Gruppengröße von 5 bis 50. Durch die gemeinsame Bewegung im Freien tritt ein archaisches Gemeinschaftsgefühl ein sowie eine tiefe Entspannung, welche die meisten Menschen noch nie im Leben erfahren hatten.

Die Richtung ist klar: Wenn uns allen der digitale Schrott zum Hals heraus hängt, wird es wieder auf das Gemeinsame, den Verbindende, das Menschliche ankommen. Eine Art rationaler Humanismus ist als nächste lang dauernde globale Konjunkturwelle zu erwarten. In dieser könnten vielleicht die kostspieligen Kriege zwischen reich und arm, jung und alt, Frau und Mann, Ausland / Inland, weiß/schwarz/gelb allmählich beigelegt werden und der Konsensualismus Europas goes global.

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Iris123

Iris123 bewertete diesen Eintrag 25.02.2021 07:37:34

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