Brauchen wir überhaupt jemals wieder Führung? Diese Frage wird von der Mehrheit der Start-Up-Szene eindeutig mit NEIN beantwortet. Man ist sowieso gegen Dominanz und Hierarchien. Alte, weiße, ja selbst weise Männer werden als "Boomer" abgetan. Aber ähnlich der Dotcom-Blase um die Jahrtausendwende, in der die cleveren Juppies meinten, sogar ohne Management auszukommen, funktioniert keine Organisation ohne Führung. Punkt.

ohill

Was versteht man eigentlich unter Führung? Gut Trainierte im Management wissen es: "Führung bedeutet, vorgegebene oder vereinbarte Ziele zu erreichen." Und wer führt? "Jene, welche die meisten Impulse zur Zielerreichung einbringen." Das muss nicht immer die Chefität sein. Meine blinde Tochter führte einige Zeit Sehende - die Blinden nennen sie "Guggis" - durch den Dialog im Dunkeln. Da waren dann die Blinden die Führer durch eine dunkle Alltagswelt, weil die sich in der Finsternis auskennen. Unser Freund Prof. Andreas Heineke, der großartige "social entrepreneur" und Erfinder des Ganzen hat ein weltweites Franchise-Unternehmen aufgebaut, das es Blinden ermöglicht, durch diese Events eine selbständige Existenz aufzubauen. Er offeriert auch Veranstaltungen fürs Management. Meine Tochter buchte mich als Supervisor für ein 2-Mio-$ Projekt einer internationalen Versicherung, in dem 500 deutsche Manager durch jeweils fünf Dunkel-Räume geschleust wurden. Dabei wurden ihnen von den Blinden eine Reihe von kollektiv zu lösenden Management-Aufgaben vorgegeben. Es war faszinierend zu beobachten, wer bei den Aufgaben die Führung übernahm: es waren so gut wie nie die Vorgesetzten!

Wenn ich mit mittleren Führungskräften ein Führungs-Training leite, so steht anfangs immer meine Lieblings-Übung: Sie nennt sich "Autoritäts-Biografie". Dabei gehen die Teilnehmenden paarweise auf eine halbstündige Wanderschaft. Die Vorgabe besteht darin, jeweils 15 Minuten zu berichten, wie Autoritäten erlebt wurden. Elterliche, schulische und berufliche. Und: wie man selbst als Autorität agiert hat. Dabei ist es nur erlaubt, zuzuhören ohne zu fragen oder zu diskutieren. Nach einer Viertelstunde wird gewechselt und darnach kommen alle wieder zurück und berichten über ihre Lernerfahrung.

Für viele ist es ein Aha-Erlebnis zwischen autoritär und Autorität zu unterscheiden. Wir verbinden normalerweise immer das Wort Autorität mit der Erwartung von Dominanz. Das ist jedoch eine fatale Verwechslung, denn es gibt Autoritäten, die überhaupt nicht autoritär sind. Jedes mal wird dann thematisiert, welche Art von Autorität akzeptiert wird. Meist entsteht Konsens darüber, dass es nicht die formale Autorität ist, der man folgt, sondern die informelle aber kongruente Art des Umgangs in Führungssituationen. Diese Erkenntnis bestätigt jedes Mal die älteste Führungs-Theorie,nämlich die historische. Schon im alten Rom unterschied man zwischen "potestas" und "auctoritas". Wenn jemand formale Autorität HAT, eine Position oder einen Titel, sozusagen höher (auf dem Potest) steht als die zu Führenden, dann hat diese Person Autorität. Wenn jemand aber eine Autorität IST, dann wird dieser Mensch als leitend akzeptiert. Ganz schlimm ist es, wie es in Unternehmen oder in der Politik häufig der Fall ist, dass jemand eine Autorität ist, sondern nur die Führungs-Funktion hat. Nebenbei kennen wir aus der Sozialpsychologie das Phänomen der rein informellen Führer:innen, die überhaupt keine Führungsfunktion anstreben, aber dennoch die Fäden in der Hand halten. Für den Erfolg von Management-Projekten ist es entscheidend, genau diese (oft gut versteckten) Leitenden zu kennen und sie ins Projekt einzubinden, sonst steigt die Wahrscheinlichkeit des Misserfolgs.

Neben diesen beiden Theorien gibt es noch eine ganze Reihe anderer: die psychologische, die soziologische, die eindimensionale und die zweidimensionale. Alle diese Modelle beziehen sich vor allem auf die Führungsperson, meist auf den (männlichen) Führer. Mit dem neueren situativen Ansatz taucht plötzlich die Erkenntnis auf, dass es beim Führen wesentlich auf den Reifegrad der zu Führenden ankommt. Die manuell Arbeitenden müssen und wollen anders geführt werden als etwa die Assistenz der Geschäftsführung. Schon vor der Pandemie-Zeit waren im Business-Diskurs all diese Modelle sehr in Diskussion. Durch den "Brandbeschleuniger" Corona wird es es noch klarer, dass es um neue Formen des Führens gehen muss und eine Art postkonventionellen Stils angesagt ist.

Eng verbunden mit der Frage des Führens ist die der Motivation. Was motiviert Menschen dazu, an einem Strang zu ziehen? Nach wie vor hat die Motivationstheorie von Herzberg aus den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts ihre Bedeutung. Dabei ist entdeckt worden, dass es sowohl "Motivatoren" als auch "Hygienefaktoren" gibt, die unsere Arbeitszufriedenheit beeinflussen. Sowohl das Leistungserlebnis als auch die Anerkennung wirken (leider) nur kurzfristig. Daher ist es wichtig, Menschen so oft wie möglich zu loben und ihre Erfolge zu würdigen, anstatt sie zu tadeln und ihnen die Leistung abzusprechen, was schlechte Führungspersönlichkeiten oft praktizieren. Langfristig motivierend hingegen wirken Arbeitsinhalt, Verantwortungsübertragung und Zukunftsperspektiven. In Zeiten, in denen wir viel weniger Kontakt zueinander haben, wird es schwierig mit dem Loben und der Würdigung von Erfolgen. Die Arbeitsqualitäten spielen hingegen eine immer größere Rolle. Zukünftige Perspektiven lassen sich in der Welt des Wandels ebenfalls schwer versprechen und Verantwortung verlagert sich von Titel und Status hin zu etwa "Projektverantwortung".

Die Hygienefaktoren sind nicht verantwortlich für die Job-Zufriedenheit, sondern vor allem für Frustrations-Vermeidung. Da spielen etwa die Unternehmenspolitik, das Einkommen, die sozialen Umstände und auch die Arbeitsbedingungen wichtige Rollen. In unserer VUCA-Welt (volatil, unkalkulierbar, chaotisch und abiguous = mehrdeutig) wird es problematisch eine klar vorhersehbare Firmenstrategie zu fahren. Das Einkommen wird vom Fixgehalt sehr in Richtung Projekt bezogen, also Schwankungs anfällig! schiften. Soziale Beziehungen, die etwa durch Intrigen getrübt sind, werden durch mehr und mehr home-office abnehmen. Dafür steigen durch die Globalisierung die Bedürfnisse, interkulturell zusammen zu arbeiten. Die Arbeitsbedingungen erhalten auch eine neue Dimension, weil ja das von Arbeitgebern zur Verfügung gestellte Büro einen abnehmenden Impakt spielt.

Im Blickwinkel dieser all-umfassenden Umstürze wird der Paradigmen-Wechsel von einer von Führungspersonen dominierten Welt hin zu eigenverantwortlicher Aufgaben-Erfüllung stattfinden. Das heißt ganz klar, dass bisherige Incentives oder Anreize kaum bis wenig greifen. Ich halte es mit Reinhard Sprenger, der schon vor 20 Jahren alle Belohnungssysteme für manipulativ und abhängig machend abqualifizierte.

Wie sieht nun eine zukünftige Welt ohne Führungsgestalten aus? Teams werden gezwungen sein, autonom Verantwortung zu übernehmen. Co-kreatives Zusammenarbeiten wird gefragt sein. Das männliche Modell des charismatischen Führers wird von mehr feminine Formen des Miteinanders abgelöst werden. Eine Gruppe von Leuten gibt sich selbst einen "Purpose", also eine Sinn stifftende Mission und verfolgt im konsensuelen Miteinander vorgegebene oder vereinbarte Ziele. Die Gruppe führt sich selbst! Allein aus dem Erlebnis der gemeinsamen Leistungserbringung entsteht so viel positive Energie, die rückkoppelnd eine vergnügliche Arbeitsatmosphäre schafft. Der "Führer", der vielfach auch angetrieben von seiner eigenen narzistischen Haltung gewohnt ist, Raum einzunehmen und sein Charisma als Faszinosum im Arbeitsalltag zu schillern, hat ausgedient.

Allenfalls brauchen wir eine neue Art von Führungspersonen, die nicht Raum einnehmen, sondern Raum geben und Spannung halten. In der Welt der IT gibt es das Berufsbild des scrum masters, der wie eine Art "Hirtenhund" die Programmierer-Herde zusammen hält. So ähnlich werden Personen als "catalists" oder "shaper" nötig sein, die vor allem ein förderliches Klima schaffen und den Projekt-Erfolg im Auge behalten, ohne die eigene Person in den Vordergrund zu spielen.

Wir bei HILL arbeiten seit zirka zehn Jahren daran in vielen kleinen und großen Projekten. Es macht uns glücklich, zu erleben, wie Menschen durch diese Form des Miteinanders sowohl erfolgreich als auch persönlich zu reifen.

3
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
6 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

Gerhard Novak

Gerhard Novak bewertete diesen Eintrag 21.05.2021 01:28:37

Dieter Knoflach

Dieter Knoflach bewertete diesen Eintrag 20.05.2021 19:16:05

Iris123

Iris123 bewertete diesen Eintrag 20.05.2021 18:52:36

1 Kommentare

Mehr von HILLO