Ich habe bei Facebook zufällig ein interessantes Video entdeckt, welches derzeit mehrfach geteilt und weiter verbreitet wird. Es handelt sich um einen Redebeitrag aus einer Diskussionsrunde der Reihe "Disput\Berlin", die bereits im März 2011 stattfand. Thema der Diskussionsrunde war: "Ohne Religion wäre unsere Welt besser dran."
Konzept der Runde ist, dass mehrere Redner zu dieser These abwechselnd Pro und Contra Stellung nehmen. Danach wird darüber diskutiert.
Der Ausschnitt, der derzeit durch die sozialen Netzwerke geht und von vielen begeistert aufgenommen und kommentiert wird, ist dieser hier:
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Der Redner ist ein Berliner Mathematik-Lehrer und Religionskritiker.
Nun, tatsächlich eine amüsante und gute Rede. Und alle auf billigen Wortwitz und seichte Unterhaltung konditionierten Nutzer der sozialen Medien rufen begeistert im Chor: "Genau! So argumentiert ein Atheist."
Falsch! Ich bin auch Atheist, aber ich würde so nicht argumentieren.
Die amüsanten Teile der Rede setzen immer nur auf das Prinzip der Übertreibung. Übertreibung ist natürlich ein gutes und erlaubtes rhetorisches Mittel, denn wie heißt es so schön: in der Übertreibung liegt die Veranschaulichung. Allerdings bleibt es am Ende eben doch eine Übertreibung und damit nur die halbe Wahrheit. Oder noch weniger.
Schon der Eingangs-Gag des Redners "Wer leichter glaubt, wird schwerer klug" ist nichts weiter als eine nette, kleine Provokation, die auf den Wortwitz setzt, ohne dass der Inhalt mithalten kann.
Durch die Jahrhunderte hinweg war das meiste Wissen in religiösen Einrichtungen vorhanden oder geschaffen worden. Oder es waren religiöse Oberhäupter, die Wissenserwerb förderten. Mönche galten lange Zeit als die klügsten Menschen. Und es war ein Theologe, der durch seinen Wissenserwerb während des Studiums und danach den wohl größten anzunehmenden Unfall der katholischen Kirche provozierte, ohne deswegen vom Glauben abzufallen - Martin Luther.
Der Eingangsspruch des Redners impliziert zudem, dass Atheisten klüger wären als Gläubige. Nun, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, diese Behauptung zu widerlegen. Ein Gang durch den örtlichen Supermarkt sollte schon ausreichen.
Wer mit lustigen Sprüchen über die Tatsache hinwegalbert, dass Milliarden Menschen weltweit durch die Jahrtausende hinweg, aus welchen Gründen auch immer, Trost und Halt in Religion, in etwas Überirdischem und Göttlichem gefunden haben und dies mit Dummheit und Indoktrination erklärt, der ist nicht klug! Der ist zunächst mal respektlos und hat am Ende trotz viel angehäuftem Wissens keine Ahnung.
Der Redner entschuldigt seinen Eröffnungsspruch ja selbst mit seinem jugendlichen Leichtsinn. Okay, die Entschuldigung kann man tatsächlich gelten lassen. Es stellt sich nur die Frage, ob es dann dem jungen Mann nicht an gewisser Erfahrung fehlt, als "Religionskritiker" aufzutreten.
Als nächstes rhetorisches Highlight präsentiert er dem Publikum die Aussage, dass es "... absurd ist, an einen Gott zu glauben, nur deswegen, weil man sein Gegenteil nicht beweisen kann."
Was ist das? Atheistenlogik? Genauso absurd ist es, nicht an Gott zu glauben, weil keiner beweisen kann, dass es ihn gibt!
Mit seiner Herangehensweise und seinen Versuchen, die Religionsfrage logisch oder per Beweis zu klären, zeigt der Redner nur, dass er das Grundprinzip der Religiosität überhaupt nicht verstanden hat.
Es geht nicht um irgendeinen Beweis oder eine Logik! Es geht um Glauben! Glauben schließt Beweise aus. Entweder man glaubt an etwas oder nicht. Im Übrigen wird der Spruch, dass zwar keiner beweisen kann, dass es Gott gibt, aber auch niemand beweisen kann, dass es ihn nicht gibt, Immanuel Kant zugeschrieben. Einem der größten Denker aller Zeiten und einer, auf den sich Atheisten gern berufen, wenn sie von Aufklärung statt Religion reden.
Der Redner fährt fort und sagt, es wäre heutzutage einfach, Religionskritiker zu sein, weil Religionen in der Vergangenheit und heute die Menschen spalten in die Guten und in die Bösen. Und so würden Kriege entstehen oder zumindest begünstigt.
Nun, wenn ich mich recht erinnere, waren Hitler, Stalin, Mao oder Pol Pot keine religiösen Menschen, aber sie haben die Menschen sehr wohl in gut und böse aufgeteilt und die größten Verbrechen der Menschheit begangen.
Man kann jetzt spitzfindig bemerken, dass auch die nationalsozialistische oder kommunistische Ideologie alle Merkmale einer Religion hatte, nur reden wir hier nicht über diesen weiten Religionsbegriff. Wir reden über die großen monotheistischen Religionen dieser Welt. Und Hitler einen religiösen Menschen zu nennen, obwohl er getauft war, würde sich der Redner wohl selbst auch nicht erlauben. Zudem war Hitlers Rassenideologie extrem biologistisch und materialistisch, also das komplette Gegenteil von Religiosität.
Gut, die fast vollständige Vernichtung der südamerikanischen Urbevölkerung durch die Spanier hatte sicherlich einen sehr religiösen Hintergrund. Allerdings dürfte es den Ureinwohnern Nordamerikas oder Australiens relativ egal gewesen sein, dass sie aus überwiegend anderen, als religiösen Gründen vernichtet wurden.
Und was das Spalten angeht: welche Existenzberechtigung hätte eine Vereinigung von Gläubigen, wenn sie ihren Glauben nicht als den wahren ansehen würde? Welchen Sinn würde es machen, wenn die christliche Religion sich der islamischen oder buddhistischen Religon öffnet? Es würde ein Gemischtwarenladen sein, der alles anbietet und damit austauschbar und am Ende überflüssig ist.
Dass sich die Gemeinschaft der Gläubigen nach ihren Vorstellungen organisiert, um einen solchen Verfall zu verhindern, kann man ihr wohl schwer vorwerfen.
Und was ist eigentlich am Spalten so schlecht? Spalten schafft Vielfalt! Will man jemandem, der einen Fanclub des BVB gründet, vorwerfen, dass er in BVB-Fans und Nicht-BVB-Fans spaltet? Soll man ihm vorschreiben, auch Fans des FC Bayern aufzunehmen, um Spaltung zu verhindern? Und wer schon mal in einem Stadion war, der weiß, wie gespalten Fußballfans sein können und wie sehr sich jede Seite für die Guten und die andere Seite für die Bösen hält. Und kriegerische Auseinandersetzungen sind zwischen Fußballfans nicht selten. Der einzige Unterschied ist, dass Privatleute selten die Möglichkeiten von Staaten haben, sich eine Armee auszustatten, mit der man aufeinander los gehen könnte.
Das Spalten ist nicht das Problem! Toleranz ist das Problem. Aufgestaute Aggression ist das Problem. Respektlosigkeit gegenüber anderen ist das Problem. Fehlendes Mitgefühl ist das Problem. Und gerade bei letzterem leistet die christliche Kirche einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Befriedung unserer Gesellschaft und auch zur Behebung ihrer eigenen Fehler.
Und der derzeitige Zustand unserer Parteiendemokratie ist auch kein besonderes Aushängeschild für säkulare Staaten.
Teilweise Recht hat der Redner, wenn er die systematische Vertuschung der damals bekannt gewordenen Missbrauchsfälle in kirchlichen Einrichtungen kritisiert. Nur mal ganz ehrlich: ist Missbrauch von Schutzbefohlenen oder von Kindern generell eine Besonderheit der Kirche?
Man kann sicher darüber diskutieren, welchen verstärkenden Einfluss die seltsame und verklemmte Sexualmoral der Kirche auf die Missbrauchsfälle hat. Aber alle sexuelle Aufgeklärtheit und Offenheit hat auch in der "Atheistenwelt" sexuellen Missbrauch nicht verhindert! Auch das ist kein Problem der Religion. Jedenfalls kein originäres.
Die Vertuschungen sind allerdings ein Problem. Aber auch dieses hat die Kirche nicht exklusiv. Man braucht sich nur mal die Verhaltensweisen von Politikern oder Managern ansehen. Und um Straftaten innerhalb der Kirchen kümmert sich die Staatsanwaltschaft. Findet dies nicht statt, ist dies zu Recht zu kritisieren.
Der Redner erklärt dann, dass es wegen der vielen Verfehlungen der Kirche nicht nur einfach ist, Religionskritiker zu sein, sondern es ist aus anderen Gründen gleichzeitig auch schwer. Wer jetzt etwas Respekt für die soziale und seelsorgerische Arbeit vieler Laienchristen erwartet, wird enttäuscht. Schwer ist es angeblich deshalb, weil es enge Verflechtungen, vor allem finanzieller Art zwischen Staat und Kirche gibt.
Weshalb das die Arbeit eines Religionskritikers schwer machen soll, gerade in Deutschland, erschließt sich mir nicht. Es war wohl wieder nur ein rhetorischer Kontrapunkt. In Deutschland darf jeder drittklassige Comedian seine Abneigung oder Kritik gegenüber der Kirche los lassen. Es tut ihm niemand etwas! Also was ist daran schwer, Religionskritiker zu sein?
Religionskritik an sich ist schwer, aber wenn sie sich auf diesem Level dieses Redners bewegt, der ja auch noch ernst genommen will, dann gehört diese Religionskritik doch eher auf eine Comedy-Bühne.
Zu den finanziellen Verpflichtungen erklärt der Redner, dass angeblich nur 1,8% der caritativen Tätigkeit der Kirchen von diesen selbst bezahlt wird, der Rest aus Steuermitteln. Ich kann diese Zahl nicht überprüfen. Nur ist die Form der Finanzierung per se kein Anlass, die Religion zu kritisieren. Unser gesellschaftliches Zusammenleben ist eben derart organisiert, dass soziale Belange eben durch Steuern und Abgaben, die der Staat einsammelt, finanziert werden. In einem weniger staatsgläubigen Land wie den USA wird diese Hilfe überwiegend privat organisiert und auch mehr im Rahmen religiöser Einrichtungen als bei uns.
Aber irgendwer muss auch hier in Deutschland die Arbeit dann machen. Und aus irgendwelchen Gründen haben sich eben besonders die kirchlichen Einrichtungen dabei hervorgetan. Man kann einwenden, dass das nur dem Erhalt des "Geschäftsmodells der Kirche" dient, allerdings ist bis auf die Geschäftsführer oder Vorstände der bundesweiten caritativen Einrichtungen noch kein Mitarbeiter bei seiner sozialen Tätigkeit reich geworden. In den allermeisten Fällen handelt es sich um "Idealisten", die ihren Beruf als Berufung sehen, gespeist aus ihrem Glauben!
Die ungleiche Bezahlung bzw. die Differenz zwischen den Spitzen und den normalen Mitarbeitern kann man durchaus kritisieren, aber auch das ist keine Spezialität der Kirchen. Ich weiß aus früherer Tätigkeit, wovon ich da rede. Aber auch das betrifft private, "bekenntnisfreie" Träger gleichermaßen.
Und dass es bei der Tätigkeit der Kirchen nicht in erster Linie um die Bezahlung geht, sondern um das "Wie" ihrer Tätigkeit, merkt derjenige, der einmal die Segnungen des staatlichen Gesundheitswesens bei öffentlichen oder privaten Trägern genießen durfte und danach in einem kirchlichen Krankenhaus behandelt und gepflegt wurde. Und dies soll nicht die aufopferungsvolle Tätigkeit der Mitarbeiter bei öffentlichen und privaten Trägern schmälern, aber es herrscht in kirchlichen Einrichtungen überwiegend ein anderer Ton! Und zwar in positiver Richtung.
Ausnahmen gibt es natürlich leider auch hier.
Am Ende bleibt festzuhalten: man kann an Religionen viel kritisieren. Vor allem kann man das kritisieren, was einem selbst nicht gefällt oder den eigenen Überzeugungen widerspricht. Allerdings wird niemand gezwungen, sich einer Religion anzuschließen. Und niemand muss mehr um sein Leben bangen, wenn er seine religiöse Organisation verlassen will. Jedenfalls nicht hier im "christlich-jüdischen Europa".
Und das ist die eigentliche Lehre aus der Geschichte der Religionen. Man muss ihnen die Allmacht nehmen!
Religionen müssen spalten, um unverwechselbar und Sinn stiftend zu bleiben. Sie dürfen auch für sich einen Allmachtsanspruch erheben. Man darf sie nur nicht an die Macht gelangen lassen und muss sie zur Toleranz gegenüber anderen erziehen.
Und das ist in Europa durch die Aufklärung gelungen, etwas, was der Islam noch vor sich hat!
Religionen dürfen nicht unkontrolliert herrschen! Dann werden Religionen genau wie jede atheistische Herrscher-Elite ihre Macht ausnutzen. Das ist aber kein Problem der Religionen, sondern ein Problem der Menschen! Es sind immer nur einzelne Menschen, die Macht ausüben und sie missbrauchen.
Macht muss generell beschränkt werden, ansonsten wird sie missbraucht!
Wir sehen das derzeit selbst in so einem "vorbildlichen säkularen Rechtsstaat" wie der Bundesrepublik, wo sich eine selbstherrliche Kanzlerin über bestehende Gesetze und unsere Verfassung eigenmächtig hinwegsetzt, Parlamentarismus hin, Gewaltenteilung her. Sie tut es, weil sie es kann. Weil sie über zuviel Macht verfügt. Und diese Macht muss nicht einmal niedergeschrieben sein. Denn nach dem Papier hätte die deutsche Bundeskanzlerin niemals so handeln können, wie sie gehandelt hat. Macht ergibt sich durch Seilschaften und Abhängigkeiten und durch Skrupellosigkeit der Mächtigen.
Und Religionen auf die Verfehlungen seiner Führer zu reduzieren, geht am ehrenwerten und rechtschaffenden Leben von Milliarden Gläubigen vorbei. Und der Hinweis auf alle Wissenschaft und aufklärerische Philosophie kann auch nicht erklären, warum Menschen durch die Jahrtausende den Glauben an verschiedene überirdische Kräfte nicht verloren haben, Und selbst in den finstersten Zeiten "Atheistischer Gewaltherrschaft" haben sich die Menschen den Glauben an einen Gott bewahrt und daraus Kraft und Hoffnung geschöpft.
Wer das nicht tut und andere Wege findet, kann das tun, sollte aber zurückhaltend mit der Beurteilung derer sein, die ihren Weg in der Religion suchen.
Die komplette Gesprächsrunde ist hier zu finden: