Der Westen versteht Russland nicht.

„Seit zwei Jahren wiederholt der Westen immer wieder die Fehler, vor denen wir, die Nachbarn Russlands, gewarnt haben. Der größte Teil Europas betrachtet die Ukrainer immer noch als die Gladiatoren im Zirkus des Todes: Man wettet auf sie, bietet ihnen aber nur unzureichende militärische Unterstützung. Um sie weitermachen zu lassen, ohne sie zum Gewinnen zu ermächtigen (Kämpfe, die man mit einer hinter dem Rücken gebundenen Hand führt, sind nicht zu gewinnen). Es geht darum, die Dinge zu verzögern.

Die Frage lautet nur: Für was wird verzögert? Für die Hoffnung, dass sich Russland irgendwann irgendwie eines Besseren besinnt und das Regime wechselt? Diese Hoffnungen sind naiv, da alle Anzeichen darauf hindeuten, dass Russland auf eine langfristige militärische Konfrontation vorbereitet ist. Darüber hinaus entstehen diese Hoffnungen aus einem völligen Missverständnis Russlands und seiner Mentalität.

In all den Jahren, in denen die Litauer (und andere Länder, die an Russland grenzen) versuchten, unseren Partnern dieses Missverständnis bewusst zu machen, hielten diese es größtenteils für eine Übertreibung, für ein Beispiel von Russophobie. Dabei handelte es sich einfach um einen „Russorealismus“, der auf unserer Beherrschung der russischen Sprache und unserer direkten Kenntnis der russischen Vorgehensweise beruhte. Denken Sie daran, dass wir fast 50 Jahre lang besetzt waren und alle russischen Strategien erlebt haben: die Ermordung oder Vertreibung aller politisch aktiven Intellektuellen, die Social-Engineering- und Propagandamaschinerie.

Sehnsucht nach den Vorteilen des westeuropäischen Fortschritts

Wir haben die russische Denkweise erlebt, die nicht westlich ist, die Ideologie wurde uns in sowjetischen Schulen beigebracht. Und wir kennen ihre Schwächen – sie respektieren und haben nur Angst vor denen, die stärker und widerstandsfähiger sind. Wer Anzeichen von Angst oder Zweifel zeigt, macht sich angreifbar.

Die Ukrainer sind keine weit entfernten Gladiatoren. Tatsächlich sind sie derzeit die Vorhut unserer gesamten westlichen Zivilisation und ihrer demokratischen Werte. Der Krieg der Kultur zwischen Russlands und Europa ist bereits im Gange, nur stecken viele Länder in Europa den Kopf in den Sand und weigern sich, diese Tatsache anzuerkennen. Der Grund? Sie beurteilen die Russen einfach nach europäischen Maßstäben, aber Russland ist kulturell nicht europäisch – und war es auch nie.

Europa wurde jahrhundertelang von der Fähigkeit Russlands getäuscht, die europäische Kultur oberflächlich zu imitieren, ohne deren Inhalte und Werte anzunehmen. Daran ist Zar Peter der Große schuld: Im späten 17. Jahrhundert begann er, gequält von der Schande über die Rückständigkeit seines Landes und voller Sehnsucht nach den Vorteilen des westeuropäischen technischen Fortschritts, von Russland als einem potentiell integralen Bestandteil Europas zu träumen.

Doch sein größter Fehler bestand darin, zu glauben, er könne die Russen in ein paar Jahrzehnten dazu zwingen, den Kultursprung zu wagen und Dinge zu erreichen, die in Europa Jahrhunderte brauchten, um zu reifen. Peter der Große wollte Nachbildungen dieser kulturellen Mechanismen für Russland, doch er war nicht in der Lage, ihre Hauptbestandteile zu verstehen – ein gewisses Maß an Freiheit, ein Recht auf Eigentum und die Verantwortung, die in der Selbstverwaltung liegt. Mit der Peitsche gelang es ihm, den Russen beizubringen, europäische Formen nachzuahmen. Was Peter der Große ihnen nicht beibringen konnte, war die Schaffung europäischer Inhalte.

Die folgenden Jahrhunderte waren in Russland geprägt von der ständigen Spannung zwischen dem Willen, das Europäertum nachzuahmen, und der Abneigung dagegen, zwischen dem Konzept der Westler („wir könnten so gut wie Europa sein“) und dem Exklusivitätskonzept der Slawophilen („Europa ist verrottet, wir sind das auserwählte Volk“). Der Mangel an Selbstkritik hat zu einem wahrhaft bipolaren Charakter der russischen Kultur geführt: Die eine Seite ist gleichsam exportorientiert und dabei von einer enormen Gier nach Anerkennung durch den Westens getrieben, die andere ist nach innen gerichtet – masochistisch, voller Selbstekel, den Defätismus und das Leid preisend.

Diese Bipolarität herrscht auch heute noch vor: Die Russen reden untereinander vielleicht in den abfälligsten Ausdrücken über ihr brutales Mutterland, doch fast jeder Russe würde, wenn er mit einem Ausländer spricht, nur von der eingebildeten Überlegenheit der eigenen Nation sprechen. Paradoxerweise sehnen sich die Russen danach, vom Westen anerkannt zu werden, doch fast jedes Porträt von Europäern in den russischen literarischen oder filmischen Werken ist abwertend: Die Deutschen, die Franzosen, die Briten, die Italiener werden vorgeführt als Karikaturen von Gier, Feigheit und der Unfähigkeit, zu lieben und Opfer zu bringen.

Die Überzeugung der Russen von ihrer eigenen überlegenen Spiritualität und ihrer Mission, die Welt zu beherrschen, obwohl sie jahrhundertelang in einem Zustand des Verfalls, der Brutalität, der Korruption und der Massenarmut in einem Land lebten, das so reich an natürlichen und menschlichen Ressourcen ist, ist erstaunlich. Aber die Russen erkennen darin keinen Widerspruch. Dostojewskij, dieser Verfechter des moralisch Zweifelhaften, kann auf der einen Seite beschreiben, wie sadistisch ein russischer Bauer seine Frau schlägt, um auf der nächsten Seite zu schreiben, dass der russische Bauer das reinste aller Geschöpfe sei, dasjenige, das Christus am nächsten stehe, und dass Russland die göttliche Mission habe, der ganzen Welt Harmonie zu bringen.

Das immer wiederkehrende Motiv in Dostojewskijs Schriften ist, dass das verrottete Europa und der Westen bald zusammenbrechen würden und das „reine“ Russland zusammen mit der orthodoxen Kirche das Reich Gottes auf Erden errichten werde. Diese Denktradition zieht sich durch Jahrhunderte, bis hin zu Putins Lieblingsphilosophen Iwan Iljin, der Russland als eine verabscheuungswürdige Kloake ohne jegliche Moral beschreibt und auf der nächsten Seite den messianischen Plan präsentiert, dass Russland die Welt beherrschen solle.

Der Wendepunkt in der kulturellen Entwicklung Russlands fiel mit der bolschewistischen Revolution zusammen, die dazu führte, dass Russland für den größten Teil des 20. Jahrhunderts weitgehend vom Westen isoliert war: Zensur, Verbot von Auslandsreisen, Verzicht auf kulturelle Einfuhr. Stattdessen gab es das Social Engineering, das den Menschen grundlegende Würde, Privatsphäre, Eigenverantwortung und Selbstverwaltung entzieht und eine bestimmte Art von Sklaven schafft – „einen Sowjetbürger“, dessen Stellung für Stalin auf zwei Arten von Hierarchien basierte, die er persönlich gut kannte: die der orthodoxen Kirche und die des Gefängnisses, der „Zona“.

Das Social Engineering brauchte die Gehirnwäsche-Idee einer utopischen „glänzenden sozialistischen Zukunft der Welt“, für die in der Zwischenzeit endlose Opfer gebracht werden sollen. Während in Russland immer noch die Gefängnismentalität herrscht (mit Putin, der stolz auf seine Jugend als Schläger ist, an der Spitze), wird die „glänzende sozialistische Zukunft“ in Russland nun durch eine andere Idee ersetzt: die der Größe einer Nation, der Wiederherstellung des „Großen Russischen Reichs“ und die Schaffung der „Russischen Welt“, die die Landsleute wieder vereint.

Die „Russische Welt“ und die „Wiederherstellung des Imperiums“ sind heute die vorherrschende russische Ideologie, die logisch unvereinbare Elemente vereint: Als ihre „Heiligen“ verehrt sie sowohl den Henker Lenin als auch seine Opfer – die hingerichtete Familie Romanow; die orthodoxe Kirche und deren Verfolger Stalin. Heute finden sich die atheistischen Bolschewiki und Soldaten der Roten Armee, die für ihre Plünderungen, Massenvergewaltigungen und Morde berüchtigt sind, in der Ikonographie zeitgenössischer russischer Kirchen dargestellt.

Ein weiterer Grund für die Missverständnisse im Blick auf Russland ist die Sprachbarriere, die dazu führt, dass der Westen nur Ausschnitte übersetzter russischer Inhalte kennt. Europa hört nicht und liest nicht, was Russland und die Russen über sich und den Westen zu sagen haben. Wenn dann doch einmal eine Übersetzung vorliegt, hält Europa das für eine Übertreibung, einen Bluff, weil es zu verrückt scheint, um es für wahr zu halten. Etwa im Fall der Erklärung des russischen Propagandisten Wladimir Solowjow im russischen Staatsfernsehen, in der er gesagt hat, dass Deutschland irgendwann unter russischer Flagge stehen werde, dass die Russen wieder nach Berlin kommen, dieses Mal aber nicht gehen würden.

Das ist kein Scherz – es ist eine Botschaft des Kremls an sein eigenes Volk und darüber hinaus ein aufrichtiger Wunsch vieler Russen, denen fast ein Jahrhundert lang in Schulen, durch Kino, Musik und Theater beigebracht wurde, Deutschland mit Faschisten und Feinden gleichzusetzen. Wenn die deutsche Öffentlichkeit nur die Sprachbarriere überwinden und in den düsteren Ecken der russischen sozialen Medien und Foren stöbern könnte, um die Stimmung der Gesellschaft gegenüber Deutschland zu spüren, wäre sie auf die eigene Sicherheit ernsthafter bedacht.

Wir können das alles nicht als verblendeten Blödsinn abtun, der aus einem Land stammt, in dem trotz der enormen natürlichen Ressourcen die breite Bevölkerung in (oder am Rande) der Armut lebt und durch Hilflosigkeit und Korruption frustriert ist. Der Algorithmus der Vorgehensweise der russischen Regierung ist einfach und eintönig: Wenn die verarmten Massen unzufrieden werden, erfindet sie einen Feind und lenkt mit einem Krieg ab. Genau so kam es unter Stalin zum Molotow-Ribbentrop-Pakt – mit dem Ziel, das frühere russische Reich wiederherzustellen, den „kapitalistischen Westen“ zu erobern und dadurch sein verarmtes Volk vom eigenen Elend abzulenken.

Der Beginn des Ukrainekrieges hat nun die gleichen Prämissen: das ehemalige Sowjetimperium wiederherzustellen und den kollektiv verrotteten Westen zu zerstören. Dies wird von den Russen öffentlich auf Russisch erklärt. Nur hört Europa nicht hin. Es übersetzt und registriert die Zeichen der öffentlichen Herabsetzung, der es in der kriminellen russischen „Zone“-Manier ausgesetzt ist, nicht. Die westlichen Führer haben diese kriminellen Sprachzeichen in der Diplomatie jahrzehntelang als „kulturelle Besonderheit“ fehlinterpretiert und bieten Beschwichtigung an (was die Russen als Schwäche und die Erlaubnis übersetzen, den Gegner noch weiter niederzutrampeln), statt zum Mittel einer entschiedenen Zurückweisung zu greifen, was als Zeichen der Stärke interpretiert worden wäre.

Das jahrhundertelange Elend hat eines ergeben: Die Russen sind keine Pragmatiker. Sie sind bestrebt, sich für eine abstrakte Vorstellung von ihrer eigenen „Größe“ zu opfern. Und sie verstehen, in wahrer Gefängnismanier, nur die Sprache der Macht.“

Autorin: KRISTINA SABALIAUSKAITĖ

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CK13

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