Eine emotionale Debatte: Weiter aufwändig Menschen retten oder vermehrt das Sterben von Schutz Suchenden im Mittelmeer in Kauf nehmen? Ohne ganzheitliche Ansätze wird man der Massenmigration – und dem Elend dahinter – kaum beikommen.
Italien und andere europäische Länder verschärfen ihre Linie gegenüber Seenotrettern. Sie wollen keine Schutz Suchenden mehr aufnehmen, die vor Libyen aus dem Mittelmeer gefischt wurden. In einem dramatischen Appell beschreibt Johann Pätzold, einer der engagierten Retter, die kritische Lage vor Ort. Er und seine Kollegen hätten viele Menschen retten können, aber auch viele sterben sehen. Man sei verpflichtet zu helfen. Die Rückführung nach Libyen sei illegal und wegen massiver Repressalien gegen die Flüchtenden dort nicht zu verantworten. Es werde kein Geld mit den Rettungsaktionen verdient, sondern viel Spendengelder benötigt. Ich kommentierte den Bericht wie folgt:
Zunächst: Großen Respekt vor eurer, von tiefem Mitgefühl getragenen Arbeit! Aber eines vermisse ich in diesen Ausführungen – wie auch in den Schilderungen anderer Seenot-Rettungsinitiativen: Deutliche Worte über das Treiben der kriminellen Schlepper in Nordafrika. Sie sind es, die den Schutz Suchenden zunächst ihr letztes Geld abpressen, sie in der Zeit vor der „Überfahrt“ unmenschlich behandeln und unter Zwang auf völlig überladene Schlauchkonstruktionen – „Boot“ kann man so etwas nicht mehr nennen – ins Mittelmeer schicken. Mit einer Chance von 0,00%, Malta oder Italien zu erreichen. Sie kalkulieren massenhaft Tote ein: Es gehört zu ihrem zynischen Geschäftsmodell. Für mich sind das Mörder. Selbstverständlich soll man retten, wen man kann. Aber man muss auch verstehen: Für jeden, den idealistische Leute wie ihr aus dem Wasser holt, schicken die Schlepper gleich mehrere neue Schutz Suchende. Der Teufelskreis geht weiter – und eure Sisyphusarbeit endet nie…
Noch eines kommt hinzu, worüber fast nie gesprochen wird: Nach Expertenschätzungen sterben viel mehr Menschen in der Sahara – auf dem Weg an die Küste – als auf dem Mittelmeer. Dort gibt es keine westlichen Hilfsorganisationen, die Hilfe leisten. Die Todeswüste ist einer der Gründe, warum für die meisten Schwarzafrikaner, die in Libyen stranden, die Rückreise in die Heimat nicht in Frage kommt. Sie sitzen in der Falle – und lassen sich auch deshalb, trotz Lebensgefahr, auf völlig seeuntauglichen Gummiflößen im Meer aussetzen.
Wo die Grenzen der Integrationskraft Europas liegen: Darüber kann man streiten. Leichter ist es in den letzten Jahren nicht geworden. Aber dass angesichts des immensen Bevölkerungsdrucks in Afrika etwas getan werden muss, das über das bloße Auffangen der Folgen von Miseren in der „Dritten Welt“ hinaus geht: Das liegt auf der Hand. Man muss ran an die Fluchtursachen – und die liegen größtenteils in den Herkunftsländern der Migranten. Mit nur einer, isolierten Aktion wird man nicht weit kommen. Es braucht ein ganzes Bündel von aufeinander abgestimmten Maßnahmen. Man wird – auch wenn das einigen Humanisten nachvollziehbarerweise nicht gefällt – nicht umhin kommen, die Bedingungen für den Rücktransport nach Nordafrika zu organisieren. Es braucht von der EU (!) geführte Auffanglager in Libyen (statt der bisher menschenverachtenden Gefängnisse dort), von wo aus Asyl gewährt oder in die Heimatländer zurückgeführt wird. Wenn Letzteres, dann am besten flankiert mit Hilfemaßnahmen für den Neaunfang und in Zusammenarbeit mit Entwicklungshilfe-Organisationen vor Ort. Gut wären auch Auffangzentren südlich der Sahara, damit nicht so entsetzlich viele Menschen in der Wüste umkommen.
Wenn hier von einem „Bündel an Maßnahmen“ die Rede ist, muss es auch darum gehen, zukünftig viel mehr dort zu tun, wo die Menschen herkommen. Diese Länder sind insgesamt in hohem Maße geprägt von u.a. hohem Bevölkerungswachstum, Klimawandel, failed States, Korruption, Diskriminierung der Frau. Eklatant sind auch die Benachteiligungen im Welthandel. Einige Beispiele: Europäische Trawler fischen afrikanischen Ländern die Bestände vor deren Hoheitsgewässern leer, die USA halten mit Beihilfen für einheimische Baumwolle handgepflückte Konkurrenzware aus Afrika weitgehend vom Weltmarkt fern, EU-Länder überschwemmen die afrikanischen Märkte mit subventioniertem Milchpulver oder Gebrauchtkleidern – und machen damit die einheimische Michwirtschaft sowie die Textilindustrie kaputt. Man könnte mit viel besserer und effektiverer Entwicklungshilfe, mehr diplomatischen Initiativen, einem faireren Welthandel u.v.a.m. einiges erreichen.
Nur: Man darf damit nicht mehr lange warten. Wenn ich dieser Tage lesen musste, dass dem deutschen Bundesentwicklungshilfeminister Müller der Etat im kommenden Haushalt um eine Milliarde Euro gekürzt wurde, dann dünkt mir: An der „Bekämpfung von Fluchtursachen“ scheint die aktuelle Regierung Merkel nicht wirklich interessiert zu sein – oder es fehlt ihr in der Flüchtlingspolitik an jeglicher Weitsicht. Oder beides.