Künstler. Staunen. Über Kunstwerke.

Sommerzeit. Zeit für Ausflüge und Reisen. Auch in die Gefilde der Kunst. In diesem Blog geht es um ein aufrüttelndes Gedicht, eine unfassbare Skulptur und ein unzeitgemäß-zeitgenössisches Musikstück.

Was haben der Dichter RAINER MARIA RILKE (1875–1926), der indisch-britische Bildhauer ANISH KAPOOR (*1954) und der estnische Komponist ARVO PÄRT (*1935) gemeinsam? Die Liebe zur Kunst, natürlich. Doch diese drei Künstler verbindet noch mehr: Sie haben sich durch Kunstwerke anderer inspirieren, ja derart in Staunen versetzen lassen, dass sie selbst Kunst schufen, die davon geprägt war.

„Nur mach vor Staunen mich stumm“ *

(* Richard Wagner, Der Ring des Nibelungen, Rheingold, Szene 3)

„Staunen ist eine Emotion beim Erleben von unerwarteten Wendungen oder von unbekanntem Schönem und Großem“ heißt es bei wikipedia. [1]

Und so verlangt der listige Loge im Wagnerschen Rheingold von dem mit seinen Zauberfähigkeiten protzenden Alberich, er möge jegliche Gestalt annehmen, nur solle es Loge vor Staunen die Sprache verschlagen. Als Alberich sich daraufhin mit seinem Tarnhelm in eine Riesenschlange verwandelt, löst dies bei Loge angeblich noch keine angemessene Reaktion aus. Erst durch die Verwandlung Alberichs in ein kleines Tier, einer Kröte, führte diese List Loges zum Erfolg, denn so konnte Alberich gefangen und seines Goldes beraubt werden.

Wohl dem, der heute noch staunen kann, sei es über große oder kleine Dinge.

„Wer staunt, hält inne, ist wach, gelassen, neugierig, konzentriert, versammelt sich ganz in der Gegenwart, ist ganz bei sich selbst. Er ist erschüttert, bewegungslos und widersetzt sich damit allem Selbstverständlichen“, schreibt der Kulturpublizist Paolo Bianchi. [2]

Mit Staunen kann also mehr gemeint sein als das Zeigen einer Geste der Verwunderung oder als eine anerkennende Äußerung.

"Aristoteles sieht im Staunen den Beginn des Philosophierens, das einen starken Akzent auf die Verwunderung legt. Die Philosophie würdigt Dinge kritischer Betrachtung, die zunächst als selbstverständlich erscheinen“ [1]

Es geht also beim Staunen auch um einen tieferen Vorgang, um innehalten, ergriffen oder gar erschüttert sein. Um ein Ereignis, das nachhaltig wirkt und das vielleicht sogar das Leben ändert. So etwas lässt sich am ehesten dort finden, wo Emotionen im Spiel sind. Und da wären wir bei der Kunst.

Künstler, die über Kunstwerke staunen

Nicht nur der Kunstinteressierte wird mitunter durch Kunstwerke in Staunen versetzt. Auch einem Künstler selbst kann es beim Betrachten von Werken anderer so ergehen. Über das tiefe innere Erstaunt sein von drei verschiedenen Künstlern über ein jeweiliges Kunstwerk soll es hier gehen – und was dieses Empfinden bei ihnen schöpferisch bewirkt.

Das wiederum Erstaunliche daran ist das gemeinsame Thema der Kunstwerke aus der griechischen Mythologie der Antike: Rilke „staunte“ Anfang des 20. Jahrhunderts über einen Torso von Apollon, Kapoor wurde inspiriert von einem Gemälde Tizians über eine Sage des Apollons. Und Pärt geriet über eben dieses Werk Kapoors derart in Erstaunen, dass er Kapoor eines seiner musikalischen Werke widmete.

Wie heißt es so schön: Alles ist mit allem verbunden…

Apollon, der Gott der Künste

Apollon, auf deutsch Apoll und auf lateinisch Apollo genannt, war der schöne, junge griechische Gott des Lichtes und wurde auch mit dem Sonnengott Helios gleichgesetzt. Als Führer der Musen war er der Gott der Künste, vor allem der Musik, der Dichtkunst und des Gesangs. Apollon wird die Erfindung der Laute (Kithara) zugesprochen, sein Lieblingsinstrument aber war die Leier (Lyra). In mehreren griechischen Sagen gilt Apollon auch als Sühnegott, als Rächer und Töter.

Apollon mit Kithara • wikipedia

1. Rainer Maria Rilke:„Du musst dein Leben ändern!“

Rilke arbeitete in den Jahren 1905/1906 für den Bildhauer Auguste Rodin. 1908 muss Rilke bei einem Besuch im Louvre bei der Betrachtung eines Torsos Apollos derart fasziniert und in Staunen versetzt worden sein, dass er seine Empfindungen in dem Gedicht „Archaïscher Torso Apollos“ ausdrückte.

Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,

darin die Augenäpfel reiften. Aber

sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,

in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,

.

sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug

der Brust dich blenden, und im leisen Drehen

der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen

zu jener Mitte, die die Zeugung trug.

.

Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz

unter der Schultern durchsichtigem Sturz

und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;

.

und bräche nicht aus allen seinen Rändern

aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,

die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.

Torso von Milet – Gipsabdruck der Marmorstatue im Pariser Louvre • wikipedia

DAS UNVOLLKOMMENE IN DER KUNST

Zunächst mag erstaunen, dass Rilke von einem Torso, also einem Bruchstück eines Kunstwerks, einem unvollkommenen „Rest“ einer menschlichen Gestalt derart angetan war. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts galt Rodin als einer der ersten Künstler, der den Torso zum eigenständigen Kunstwerk erhob. Damit war ein neuer Kunstbegriff geschaffen, der das Unvollkommene, das Bruchstückhafte, zur Kunstform erhob. Zu einer Zeit, in der die Fotografie aufkam und ein „vollkommenes“ Abbild der Natur produzieren konnte und die Wissenschaft immer exaktere, berechenbare Erkenntnisse über die Natur erzielte, geriet in der Kunst das Fragmentarische und bald ja auch das Abstrakte in den Mittelpunkt. PETER SLOTERDIJK bringt es auf den Punkt: „Intensität schlägt Standardperfektion“ [3]

LICHT, LICHT, LICHT

Die ersten zwei Strophen schildern Rilkes Eindrücke und Gedanken beim Betrachten des Torsos. Die Ausdrücke „glühen“, „blenden“, „Kandelaber“ (Leuchter), haben alle mit LICHT zu tun. Und gleich in der zweiten Zeile ist von den (nicht vorhandenen) „Augenäpfel“ die Rede. Es gibt Interpretationen, die das Thema Licht in Rilkes Gedicht als Metapher für die WAHRHEIT auffassen. [4] [5]

Schon in den ersten acht Zeilen wird deutlich, wie sehr sich Rilke von dem Kunstwerk angesprochen fühlt. Es ist nicht nur ein objektives Betrachten des Torso, die Figur scheint für Rilke vielmehr fast noch lebendig zu sein. Der Körper glüht nach, die Brust blendet den Betrachter noch.

In der dritten Strophe verdichtet sich die Lichtwahrnehmung und der Grad der gefühlten Lebendigkeit des Torsos steigert sich zu einem aktiven „Flimmern“. Der Vergleich mit einem Raubtier zeigt die ganze Spannung, die für Rilke in der Betrachtung liegt.

PERSPEKTIVWECHSEL

In der letzten Strophe gipfeln die Eindrücke des Betrachters in einer Umkehrung von Subjekt und Objekt: Aus dem Torso als ein zu betrachtendes Objekt wird ein Subjekt: Der Torso schaut den Betrachter durchdringend an: „Denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht“. Rilke ist derart gebannt von diesem Werk, dass er sich als vormals Betrachtender nun zum Objekt degradiert sieht.

Und dies macht etwas mit ihm. Es scheint ihn förmlich innerlich zu zerreißen und völlig aus der Realität eines Museumsbesuchs zu katapultieren. Denn nun kommt der letzte Satz des Gedichts: „Du mußt dein Leben ändern.“ „Ein Satz wie von einem anderen Stern kommt hernieder.“ [6] Oder wie es PETER SLOTERDIJK formuliert: „Das Stichwort zur Revolution in der 2. Person Singular. Ich lebe zwar schon, aber etwas sagt mir in unwidersprechlicher Autorität: Du lebst noch nicht richtig.“ [6]

DAS LEBEN ÄNDERN

Man kann lange darüber nachdenken, was Rilke mit dieser eindringlichen Aufforderung meint. Sicherlich nicht irgendeine Verhaltensänderung im täglichen Alltags-Einerlei. Es geht nicht um mehr Bewegung, Ernährungsumstellungen oder weniger Medienkonsum.

Vielleicht hat sich das Leben ja schon durch diese intensive Begegnung mit dem Kunstwerk geändert. Vielleicht ist es, wie es in einer Jahresschlussandacht formuliert wird, dieser Moment des tiefen, inneren Staunens und Ergriffenseins über das vor ihm stehende Kunstwerk, welches ihm seine Sicht auf den Gegenstand vom „bloßen Sehen zum Gesehen-werden“ verändert. „Ihm passiert etwas, was so bedeutsam erscheint, dass es eben nicht nur für diesen Moment … bedeutsam ist, sondern für das ganze Leben bedeutsam ist.“ [7]

In einem Vortrag zur Eröffnung einer Ausstellung in der Benediktinerinnenabtei St. Hildegard heißt es für unser Thema sehr treffend: „In diesem Gedicht macht ein Künstler (also Rilke), in einem Kunstwerk (dem Gedicht), ein Kunstwerk (den Torso des Apollo) … zum Thema.“ [8]

2. Anish Kapoor: „Marsyas“

TIZIAN: Die Häutung des Marsyas • 1570 – 1576 • wikipedia

Der italienische Maler TIZIAN (1490–1576) malte gegen Ende seines Lebens ein Bild mit dem Titel: „Die Häutung des Marsyas“. Marsyas ist ein Mensch-Tier-Mischwesen, ein Satyr, aus der griechischen Mythologie. Ihm wird, kopfüber aufgehängt, bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen.

MARSYAS-SAGE

Wer hat diese grausame Tortur zu verantworten? Niemand anderes als der Gott der Künste – Apollon. Er ist an der Schindung aktiv beteiligt und legt auf dem Bild selbst Hand an. Wie kam es zu dieser grausamen Tat? In der Sage um den Satyr Marsyas findet dieser eine Doppelflöte, die die Göttin Athene zuvor achtlos weggeworfen hatte, nachdem sie entsetzt feststellte, dass ihr Gesicht beim Spielen der Flöte durch die aufgeblähten Wangen „entstellt“ wurde. Marsyas nimmt das Instrument an sich und erlernt sein Spiel. Nach erfolgreichem Üben bringt er es zu einer solchen Meisterschaft, dass er den Gott der Künste zum musikalischen Wettkampf herausfordert. Apollon, der auf einem der Laute ähnlichem Saiteninstrument, der Kithara, spielt und in einem zweiten Durchgang dazu auch noch singt, was Marsyas auf dem Blasinstrument nicht möglich ist, gewinnt – natürlich – den Wettkampf. Der Sieger, so ist es vereinbart, darf mit dem Unterlegenen machen, was er will. Apollon bestraft Marsyas aufgrund seiner Selbstüberschätzung und Hybris, sich über die Künste eines vollkommenen Gottes stellen zu wollen, mit dem Tod. Und das auf grausamste Art und Weise durch Häutung bei lebendigem Leibe. Über den verzweifelten Ausruf Marsyas: „Quid me mihi detrahis?“ („Was ziehst du mich ab von mir selbst?“) könnte man sicherlich trefflich philosophieren. [9, Ovid: Metamorphosen] , [10]

Das Gemälde von Tizian, das den Moment des Todes Marsyas darstellt, hat den 1956 in London geborenen indisch-britischen Bildhauer ANISH KAPOOR zu einem eigenen Kunstwerk inspiriert, das er „Marsyas“ nannte. Es wurde 2002 für ein halbes Jahr in der Turbinenhalle der Londoner Tate Gallery of Modern Art ausgestellt. Zeitgleich fand in London eine große Tizian-Ausstellung statt, in der auch „Die Schindung des Marsyas“ zu sehen war.

ÄUSSERE FORM

Die Skulptur besteht in erster Linie aus drei Metallringen von jeweils 28 m Durchmesser. Die beiden äußeren Ringe sind senkrecht, der mittlere waagerecht angeordnet. Alle drei Ringe sind nach innen hin offen, sodass man von rechts, von links sowie in der Mitte von unten in die Skulptur hineinschauen kann. Von einem der beiden senkrechten Ringen ist eine dünne Stoffbahn aus PVC über den mittleren Ring bis zum anderen senkrechten Ring gespannt. Die PVC-Membran ist rot gefärbt und erhält durch den Einbau von dünnen schwarzen Nähten einen sehr fragilen Charakter.

Mit seinen Ausmaßen von über 150 m Länge erstreckte sich das monumentale Werk über die gesamte Turbinenhalle.

Da es aus Gründen des Urheberrechts nicht möglich ist, entsprechende Zeichnungen zu veröffentlichen, habe ich versucht, die Grundstruktur der Skulptur zu zeichnen.

Skizze der Skulptur „Marsyas“ von ANISH KAPOOR • Entwurf: Hochwald

Auch ist es nicht leicht, im Internet frei zugängliche Fotos der Skulptur zur Veröffentlichung ausfindig zu machen. Ich bin schließlich auf flickr fündig geworden, wo ein gewisser Matt Hobbs einige Fotos veröffentlicht hat und diese auch für eine Weiter-verwendung freigibt (Unter der Voraussetzung, dass man seine Website angibt: matthobbs.com).

Hier sieht man einen der beiden senkrechten Stahlringe an einem Ende der Turbinenhalle mit den in die Luft gehenden Stoffbahnen, die allerdings aus Stabilitätsgründen fixiert sind.

Teilstück der Skulptur „Marsyas“ • Foto von Matt Hobbs auf flickr • matthobbs.com

Hier und hier ist ein Foto vom mittleren Ring und hier die Rückseite eines der beiden Außenringe zu sehen. Matt sei Dank!

DEUTUNG

Ein unbedarfter Besucher, der nicht den Titel der Riesenskulptur kennt, wird vermutlich vergeblich rätseln, was das alles zu bedeuten hat. Man mag an ein schwarzes Loch denken, an dessen „Ereignishorizont“ , ab dem es beim Überschreiten kein Zurück mehr gibt. Oder an ein sogenanntes „Wurmloch“, das zwei Seiten desselben Raums mit einer Art Tunnel verbindet und beim Fliegen durch die Galaxie als „Abkürzung“ dienen könnte. [11]

Erschwerend kommt hinzu, dass es nicht möglich ist, eine Position in der Halle einzunehmen, von dem aus das gesamte Kunstwerk wahrzunehmen ist. Man kann also immer nur einen Teil sehen und muss sich die verschiedenen Sinneseindrücke zu einem großen Ganzen zusammenfügen. Aus dem Betrachten eines Kunstwerks wird ein Vorgang des Erkundens.

Wenn man allerdings den Titel der Skulptur kennt und um die Marsyas-Sage weiß, kommt man sicherlich nicht umhin, an eine weit aufgespannte Haut zu denken. Und tatsächlich: In der Sage um den Wettstreit zwischen Apollon und Marsyas hängt Apollon die abgezogene Haut von Marsyas „tatsächlich“ auf, vermutlich zur Abschreckung. Den nach unten geöffneten mittleren vertikalen Stahlring könnte man als eine Parallele zum hängenden Marsyas deuten.

WIRKUNG

Der „Marsyas“ von Anish Kapoor mag auf den Besucher irritierend und verunsichernd wirken. Zum einen ist es – wie bereits erwähnt – nicht möglich, eine Gesamtansicht von der Skulptur zu erhalten. Diese Verunsicherung über die räumliche Wahrnehmung führte mitunter zu der paradoxen Spekulation, ob die Skulptur gar größer sei als die sie umgebende Turbinenhalle…

Die rote PVC-Folie stellt eine Hülle, die dünne Haut eines Objektes dar. Was aber wird hier eigentlich umhüllt? Was ist der Inhalt? Wieso bleibt diese körperlose Hülle in ihrer Form bestehen? Der Kunsthistoriker Thomas Zaunschirm schreibt in einem lesenswerten Artikel von einer „abstrakten Leere“. Für ihn ist „Kapoors Monster“ ein „riesiger sich an die West- und Ostwand der einstigen Turbinenhalle festsaugender Hohlkörper“. [12]

Der Künstler selbst legt großen Wert darauf, dass die Skulptur sein Geheimnis bewahrt: „Das Werk formt sich zwischen drei sehr großen Stahlringen, zwischen denen es sich wie eine gehäutete Haut spannt. Es geht mir um die Art und Weise, wie eine Sprache der Technik in eine Sprache des Körpers verwandelt werden kann. Es ist wichtig, dass man nie einen Blick auf das ganze Werk werfen kann. Es ist so in das Gebäude hineinge-zwängt, dass nur ein Teil davon zu sehen ist. Das Werk muss sein Geheimnis bewahren und darf seinen Plan nie preisgeben.“ ... „Ich möchte Dinge schaffen, die geheim bleiben.“ [13, übersetzt mit DeepL]

WEITERE LINKS

Wer nun, so wie ich, aus dem Staunen über dieses Werk Kapoors nicht herauskommt, dem seien die folgenden Links zur Vertiefung empfohlen:

• Weitere Fotos vom „Marsyas“ gibt es hier , hier oder recht umfangreich mit vielen Skizzen und auch anderen Werken Kapoors hier, wo man ab S. 8 „durchblättern“ kann.

Auf der Website Kapoors sind hier drei sehr gute Fotos zu sehen und hier einige Entwürfe, Fotos sowie ein 30-minütiger Film über das Werk.

Hier gibt es ein YT-Video als Kurzfassung (4:12) über den Aufbau der Skulptur.

• Einen ganz ausgezeichneten Text über einen Besuch der Ausstellung findet man auf kunstforum.de. Es handelt sich um einen sehr lebendigen Erlebnisbericht, der aber leider erst nach kostenloser Registrierung vollständig gelesen werden kann. Aber es lohnt sich!

Auf Deutschlandfunk Kultur kann man einen Podcast von Jörg Magenau abrufen: „Die Erfindung der Kunst. Warum der Satyr Marsyas gehäutet wurde.“ Teilweise recht anspruchsvoll und philosophisch, aber dennoch – oder gerade deswegen – sehr hörenswert.

3. ARVO PÄRT: Komponieren mit der Stille

Arvo – wer? Wer mit dem Namen Arvo Pärt noch nichts anfangen kann, dem seien an dieser Stelle zunächst einige einführende Worte und ausgesuchte Musikbeispiele zu diesem Komponisten nähergebracht.

Arvo Pärt ist ein zeitgenössischer Komponist, der 1935 in Estland geboren und in diesem Jahr 89 Jahre alt wird. Er gilt als einer der erfolgreichsten und meistaufgeführtesten Komponisten der „Neuen Musik“ der Gegenwart.

MODERNE MUSIK DER ANDEREN ART

Nun mag manch einer bereits an klassischer Musik kein Interesse haben. Wenn diese „klassische Musik“ dann aber auch noch „zeitgenössisch“ ist, dann ist das nicht nur ein sprachlicher Widerspruch, sondern lässt für viele musikalisch das Schlimmste befürch-ten. Bereits die Musik zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist ja nicht mehr klassisch, sondern schon „modern“. Die entsprechenden Komponisten (Debussy, Ravel, Schönberg, Webern, Berg u.a.) sind zumindest vom Namen bekannt. Doch wer kennt die Musik von Komponisten nach dem Zweiten Weltkrieg wie z.B. Ligeti, Nono, Henze, Boulez, Stockhausen? Komponisten, die – wie Pärt – in der Mitte der 1930er Jahre geboren wur-den, wie z.B. Schnittke, Penderecki oder Kagel, haben ebenfalls kein breites Publikum gefunden. Am ehesten bekannt sein dürften Vertreter der sogenannten „Minimal Music“, die Mitte der 1960er Jahre in den USA bekannt wurden und deren Einfluss sich auch auf die damalige experimentelle Rockmusik auswirkte (z.B. Velvet Underground). Die Hauptvertreter dieser Stilrichtung sind Steve Reich, Philipp Glass und Terry Riley. Die Musiker sind – wie Pärt – alle um 1935 geboren.

Und tatsächlich: Pärt wird als „Meister der Reduktion, der minimalistischen Schlichtheit“ bezeichnet [14], seine Musik als „Neue Einfachheit“ mit einer starken Reduktion des musikalischen Materials beschrieben [15].

Gilt Pärt also als weiterer Vertreter der „Minimalmusik“?

Hören wir uns ein für Pärt richtungsweisendes Stück an, das er 1976 komponiert hat.

ARVO PÄRT: „Für Alina“ (1976) 3:40

Für Alina“ war das erste Stück, das Pärt nach einer 8-jährigen Schaffenskrise komponierte. Zuvor begann sein musikalischer Werdegang unter dem Einfluss der Musik von Prokofjew, Schostakowitsch und Bartók. Durch die Beschäftigung mit der Zwölftonmusik gehörte Pärt im damals zur Sowjetunion gehörendem Estland zu einem Vertreter der sowjetischen Avantgarde. Doch Pärt war mit seinen Kompositionen nicht glücklich, er suchte nach anderen Ausdrucksmöglichkeiten.

Es hat keinen Sinn mehr, Musik zu schreiben, wenn man fast nur zitiert. Und dann habe ich Schluss gemacht.“ [16]

MEISTER DER REDUKTION

Und so beendete Pärt 1968 seine bisherige Kompositionspraxis und wandte sich ab von allen bisherigen musikalischen Vorbildern.

Ich hab in meinem Leben eine große Krise gehabt, eine Sehnsucht gehabt und habe keine Antwort bekommen, von niemandem. Und eines Tages stand ich vor unserem Haus, eine Bushaltestelle und ein Straßenfeger war dort. Ich ging zu ihm und fragte: Wie soll ein Komponist Musik schreiben. Er hat dann auf mich geschaut: Ja, vielleicht muss man jeden einzelnen Ton lieben.“ [17]

Durch Zufall kam er Mitte der 1970er Jahre mit der Gregorianischen Musik in Berührung. Und diese Erfahrung brachte die musikalische Wende:

Im gregorianischen Repertoire „fand ich eine Welt ohne Harmonien, ohne Metrum, ohne Klangfarbe, ohne Instrumentation. Ohne alles. Kurz darauf entdeckte ich zum ersten Mal, dass man mit einer einzigen Melodiestimme oft mehr ausdrücken kann als mit vielen. Ich erkannte, dass es genügt, wenn ein einziger Ton schön gespielt wird.“ [18]

Der gregorianische Choral hat mich gelehrt, welch ein kosmisches Geheimnis sich in der Kunst der Kombination von zwei, drei Tönen verbirgt.“ [15]

Arvo Pärts Musik hat seit 1976 auf den ersten Blick einiges mit der Minimal Music gemeinsam, z.B. geringe harmonische Komplexität ohne Dissonanzen, häufige Wiederholung von Motiven. [19] Aber nein, man spürt doch sofort, dass sich diese Musik aus anderen Quellen speist als die eines Steve Reichs. Pärts Musik geht nach innen, ist zurückgenommen und auf stark reduziert. Man spürt vor allem, dass sie spirituell ist. Durch ihren Verweis zur gregorianischen Musik hat sie damit auch religöse Bezüge.

DREIKLÄNGE WIE GLOCKEN

Dies alles wird auch in dem Stück „Spiegel im Spiegel“ deutlich, das Pärt zwei Jahre später komponiert hat, bevor er kurz danach aus politischen Gründen Estland verließ und nach Österreich emigrierte.

ARVO PÄRT: „Spiegel im Spiegel“ (1978) 10:27

Die drei Klänge eines Dreiklangs wirken glockenähnlich. Deshalb habe ich es Tintinnabuli genannt. Ich arbeite mit wenig Material, mit einer, mit zwei Stimmen, ich baue aus primitivstem Stoff. Dieser eine Ton, die Stille oder das Schweigen beruhigen mich.“ [18]

AUSWEISUNG UND ERFOLG

1980 wurde Pärt von Seiten des Zentralkomitees der KP nahegelegt, das Land zu verlassen, um Repressalien zu entgehen. Er emigrierte nach Wien, wurde österreichischer Staatsbürger, ließ sich aber ein Jahr später in Berlin nieder.

1984 erschein auf dem Münchner ECM-Label die vielbeachtete CD „Tabula Rasa“ – mit dem Violinisten Gidon Kremer und dem Jazzpianisten Keith Jarrett – die Pärt auf einen Schlag berühmt machte.

Hier die beiden Titel „Fratres“ (12:37) und „Tabula Rasa“, Teil 1 (10:05).

Pärt hat seitdem zahlreiche weitere Werke, auch viel Chormusik, veröffentlicht. Seit 2008 lebt er wieder in Estland, wo es in einem Wald nahe Tallinn ein Arvo-Pärt-Zentrum gibt. Hier ein 13-minütiger arte-Film über den Lebensweg Pärts und das neu errichtete Zentrum.

Soweit ein „kurzer“ Abriss über den Künstler Arvo Pärt.

KLAGELIED FÜR DE LEBENDEN

Zurück zum Thema „Künstler staunen über Kunstwerke“. Und da können wir es wirklich kurz machen: Pärt besuchte im Jahr 2002 London, um an der Ausstellungseröffnung in der Turbinenhalle der Tate Modern teilzunehmen:

‚Als ich den ‚Marsyas“ von Anish Kapoor“ … „zum ersten Mal sah, war der Eindruck gewaltig. Mein erster Gedanke war: ich als Lebender stehe vor meinem eigenen Körper und bin tot.“ ... „Plötzlich sah ich mich in eine Position versetzt, aus der mein Leben in einem anderen Licht erschien. In diesem Moment hatte ich das starke Empfinden, noch nicht reif zu sein für das Sterben. Und die Frage tauchte auf, was ich in der mir verbleibenden Zeit noch bewältigen könnte. Anish Kapoors Skulptur sprengt mit ihrer Größe nicht nur Raumvorstellungen, sondern nach meiner Wahrnehmung auch die Zeitdimension. Das ist der Themenkreis für meine Komposition Lamentate (Klaget). Und so habe ich ein Klagelied geschrieben, ein Lamento, nicht für die Toten, sondern für uns, die Lebenden – für uns, die es nicht leicht haben, mit dem Leid und der Verzweiflung der Welt umzugehen.“ [A.P., zitiert aus dem Beiheft der CD „Lamentate“, ECM 2005]

Arvo Pärt widmet seine Komposition „Lamentate“ aus dem Jahr 2002 Anish Kapoor und seiner Skulptur „Marsyas“, jenem leidgeprüften Wesen, dem der Gott der Künste so arg zusetzte.

Das Werk wurde im Februar 2003 in der Turbinenhalle der Tate Modern uraufgeführt, vor jenem mächtigen „Marsyas“. Die Komposition erschien, aufgenommen ein Jahr später in Sindelfingen, 2005 bei ECM auf CD.

Anmerkung zur Musik:

„Lamentate“ besteht aus 10 Abschnitten. Leider können sie in dem YT-Video nicht einzeln angesteuert werden. Nach einem „pompösen“ ersten Abschnitt (minacciando = drohend, bedrohend) folgt der lauteste Teil des Werkes (spietato = erbarmungslos, unerbittlich, herzlos). Der geneigte Hörer möge ob der Lautstärke nicht gleich abschalten, sondern durchhalten und sich auf die weiteren, wesentlich ruhigeren Teile freuen ...

ARVO PÄRT: „Lamentate“ (2002) 36:18

SCHLUSSBEMERKUNG

Man mag sich die Frage stellen, was den Autor zu den hier vorgestellten drei Künstlern und ihre jeweiligen Kunstwerke geführt hat. Nun, alle drei Künstler waren mir bereits vorab bekannt. Als ich erstmalig die CD „Lamentate“ von A. Pärt auflegte und dabei das Beiheft durchblätterte, stieß ich auf die Widmung an A. Kapoor und ein Foto des Orchesters vor der Skulptur. Zusammen mit dem Gedicht von Rilke über Apollon ergab sich eine Art Triptychon, eine erstaunliche Gemeinsamkeit von Künstlern und ihren Kunstwerken…

.

.

Quellenangaben:

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Staunen

[2] https://www.kunstforum.de/artikel/staunen/

[3] https://mein-lernen.at/deutsch/moderne-literatur/rilke-archaischer-torso-apollos-interpretation/

[4] http://www.planetlyrik.de/ulrich-karthaus-zu-rainer-maria-rilkes-gedicht-archaeischer-torso-apollos/2021/10/

[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Archaïscher_Torso_Apollos

[6] http://www.wirks.at/blog/du-musst-dein-leben-andern/

[7] https://stefan-oster.de/leben-aendern-jahresschlussandacht-2017/#

[8] https://abtei-st-hildegard.de/du-musst-dein-leben-andern-vortrag-zur-eroffnung-der-ausstellung-askese/

[9] https://www.lateinheft.de/ovid/ovid-metamorphosen-liber-sextus-marsyas-ubersetzung/

[10] https://www.kunstforum.de/artikel/anish-kapoor-4/

[11] https://www.mdr.de/wissen/was-ist-ein-wurmloch-und-wie-kann-man-es-entdecken-astrophysik-100.html#:~:text=

[12] http://www.zaunschirm.de/kapoor.html

[13] https://anishkapoor.com/156/marsyas-3

[14] https://www.konzerthaus-dortmund.de/de/mediathek/arvo-paert-2024

[15] https://www.klassikakzente.de/ecm-sounds/news-und-rezensionen/die-vermaehlung-von-wort-und-klang-tonu-kaljuste-mit-geistlichen-meisterwerken-von-arvo-paert-271308?utm_campaign=430790_TEST2_ECM_NL_November_231731_DE&utm_medium=email&utm_source=newsletter&miid=173970933&utm_mailtype=DGMailerUMG&dm_i=4YSZ,98EE,2VKSTX,1BOZH,1

[16] https://www.elbphilharmonie.de/de/mediathek/arvo-part-im-portrait/19

[17] https://www.swr.de/swr2/literatur/joonas-sildre-zwischen-zwei-toenen-aus-dem-leben-des-arvo-paert-100.html

[18] https://www.deutschlandfunk.de/komponist-arvo-paert-die-seele-so-lange-laeutern-bis-sie-102.html

[19] https://de.wikipedia.org/wiki/Minimal_Music

FOTOS:

• Apollon mit Kithara: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Fresco_Apollo_kitharoidos_Palatino_Inv379982_n2.jpg

• Torso von Milet: https://commons.m.wikimedia.org/wiki/File:Torso_von_Milet.jpg

• Tizian: Die Häutung des Marsyas https://commons.m.wikimedia.org/wiki/File:Torso_von_Milet.jpg

• Skulptur "Marsyas" auf flickr: Matt Hobbs

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