Wer Ende der 1990er Jahre Radio gehört hat – und da meine ich nicht den oftmals vorherrschenden Dudelfunk – ist an einer neuen, außergewöhnlichen Stimme nicht vorbeigekommen. An lateinamerikanische Folklore angelehnte Lieder, vornehmlich aus Mexiko, waren da zu hören, im Kontrast zu Eigenkompositionen der Künstlerin. Alles in einem eigenen musikalischen Gewand. Emotional, persönlich, stark.
Die Sängerin, die mit ihrer ersten CD vor allem in Kanada und Frankreich, aber auch in den USA für Aufsehen sorgte, heißt Lhasa. Diesen Vornamen gab ihr ihre Mutter erst, nachdem sie bereits fünf Monate auf der Welt war. Namenlos. Dann schließlich las die Mutter ein Buch über Tibet und fand den Namen seiner Hauptstadt – Lhasa – treffend für ihr Kind. Lhasa de Sela also. Tochter eines mexikanischen Sprachlehrers und einer amerikanischen Fotografin.
Im Folgenden sollen die drei musikalisch sehr unterschiedlichen CDs in Ausschnitten vorgestellt werden. Auf ihrer ersten CD singt Lhasa ausschließlich spanisch, später auch französisch und englisch.
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„La Llorona“ (1997)
Wer die 1997 erschienene Debüt-CD zur Hand nimmt, ist beeindruckt von der Ausdrucksstärke des Bildes einer Frau, von der Sängerin selbst gemalt.
CD: Lhasa "La Llorona" (Albumtitel)
Streng schaut sie einen an, die Frau auf dem Cover. „La Llorona“, die Weinende oder die Wehklagende, heißt die CD und damit auch die Frau auf dem Titel.
„La Llorona“ ist ein mexikanisches Volkslied, dessen Ursprünge bis ins 16. Jahrhundert zurückgehen. Das Lied erzählt vom Geist einer Frau, die um ihre Kinder weint, die sie zuvor in einem Fluss ertränkt haben soll. Der Grund für diese Tat hat mit ihrem Ehemann und seiner häuslichen Gewalt zu tun. [1]
Das Lied kommt auf der CD überraschenderweise nicht vor. Aber immerhin: Das erste Stück beginnt mit niederprasselnden Regentropfen, die erste Zeile lautet entsprechend: „Llorando“ – weinend.
Gehen wir aber zunächst statt durch den Regen in die Wüste. Auch hier bleiben die Tränen, wenn auch nur innerlich, da sie bereits überwunden sind. Das Lied „El Desierto“ stammt von Lhasa selbst und ihrem kongenialen Begleiter an der Gitarre und anderen Instrumenten, YVES DESROISIERS.
Lhasa de Sela: „El Desierto“ • CD „La Llorona“ • 1997 (Text auf spanisch)
„Ich bin in die Wüste gekommen, um über deine Liebe zu lachen
Dass die Wüste zarter ist und die Dornen besser küssen
Ich bin in die Mitte von Nirgendwo gekommen, um zu schreien
Dass du nie verdient hast, was ich dir so sehr geben wollte“
… „Ich bin in die Wüste gekommen, um zu brennen
Weil die Seele Feuer fängt, wenn sie aufhört zu lieben“ (Übersetzung mit deepL)
Da läuft also die Erzählerin in die Wüste, in ein Nichts, ein Nirgendwo, um mit ihrer gescheiterten Beziehung abzurechnen. Die Stimme von Lhasa de Sela ist die einer starken, selbstbewussten Frau, die zwar sicherlich Tränen vergossen hat, aber nun entschlossen und handlungsfähig wirkt.
Wie schrieb Tom R. Schulz auf zeit.de: „Wenn Lhasa singt, singt eine Kriegerin, kein Püppchen“. [2] Und Stefan Franzen zitiert auf ByteFM einen anderen Journalisten: „Lhasa singt, als hätte sie fünf Jahre geheult, nun aber beschlossen, es nie mehr zu tun“. [3]
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In dem traditionellen Lied „El Payande“ geht es um die Sklavenzeit, in der die Erzählerin und ihre Mutter Sklavinnen eines „niederträchtigen Herrn“ waren.
Lhasa de Sela: „El Payande“ • CD „La Llorona“ • 1997 (Text auf spanisch)
Hier eine Live-Fassung dieses Titels mit zahlreichen Fotos der Künstlerin.
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In „Por Eso Me Quedo“ (Warum ich bleibe) singt Lhasa im Dreivierteltakt von krummen Reimen auf der Suche nach Dissonanzen für ihr neues Lied. Eine Eigenkomposition, wiederum arrangiert von YVES DESROSIERS.
Lhasa de Sela: „Por Eso Me Quedo“ • CD „La Llorona“ • 1997 (Text auf spanisch unter dem Video)
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Hier nun ein letztes Lied von der CD „La Llorona“. Das Lied „Los Peces“ ist eines der bekanntesten spanischen Weihnachtslieder. Es geht darin um Fische, die Wasser trinken, um zu sehen, wie Gott geboren ist. Logisch, oder? Und dazwischen handelt das Lied von der Jungfrau Maria, wie sie alltägliche Dinge verrichtet, wie Haare kämmen, Wäsche auf einem Rosmarinstrauch ausbreiten, sich mit ein wenig Seife waschen. Eine Deutung dieses Liedes entzieht sich meinen Fähigkeiten…
Lhasa de Sela: „Los Peces“ • CD „La Llorona“ • 1997 (Text auf spanisch)
Hier ist ein YT-Video mit zahlreichen Fotos und Bildern von Fischen und der Hl. Maria.
Und wer Lhasa einmal „live“ erleben möchte: Hier das Lied „Los Peces“ in einem französischen Fernsehauftritt 1999.
„The Living Road“ (2003)
„The Living Road“ ist der Titel ihrer zweiten CD. Sie wurde 2003, also sechs Jahre nach „La Llorona“ veröffentlicht. Eine Ewigkeit für einen Musiker, der eigentlich darauf bedacht ist, nach seinem Debüt nicht in Vergessenheit zu geraten und so schnell wie möglich musikalisch nachzulegen. Nicht so Lhasa de Sela. Sie zog es vor, nachdem sie in Europa und Nordamerika auf Tournee gegangen war, nach Frankreich zu ziehen, um sich der Zirkus- und Theatertruppe ihrer drei Schwestern anzuschließen. (Hier ein beeindruckender Auftritt Lhasas mit ihren Schwestern im Cirque Pochéros). Sie lebte mit ihnen im Wohnwagen und zog von Ort zu Ort.
Damit kehrte sie zu ihrem nomadenhaften Leben „auf der Straße“ zurück, das sie schon als Kind ausgiebig kennengelernt hatte. In einem umgebauten Schulbus reisten ihre Hippie-Eltern mit Lhasa und den Geschwistern durch die USA und durch Mexiko, so dass Lhasa ihre ersten sieben Lebensjahre ständig „on the road“ war.
In Marseille fing Lhasa schließlich wieder an, Lieder zu komponieren. Ihr zweites Album erschien dann 2003 in Kanada, wo sie seitdem hauptsächlich lebte.
„The Living Road“ ist keinesfalls eine Wiederholung ihres erfolgreichen ersten Albums. Im Gegenteil: Es gibt keine traditionelle Folklore mehr, alle Titel sind neu komponiert. Auch singt sie jetzt neben spanisch auch französisch und englisch.Hören wir als erstes ein kleines, einfaches Stück mit einfachem Text:
Lhasa de Sela: „Small Song“ • CD „The Living Road“ • 2003
Kennt man einen solchen rumpelnden Blues nicht auch von TOM WAITS? Und ja, Tom Waits gehört zu den musikalischen Vorbildern Lhasas, genau wie BILLIE HOLIDAY, BJÖRK und DYLAN. Als Kind aber liebte sie „diesen Donovan. Der war mein Favorit. Der Hurdy Gurdy Man.“ [4] Sie war aber auch von dem chilenischen Musiker VICTOR JARA sehr angetan. Als Kind soll sie davon geträumt haben, ihn später einmal zu heiraten. Da wusste sie noch nicht, dass er bereits 1973 getötet worden war. [5]
Mit Liedern wie „Small Song“ entwickelte sich Lhasa von einer Interpretin lateinamerikanischer Folklore zu einer zeitgenössischen Singer/Songwriterin.
Das Eröffnungsstück auf „The Living Road“ kommt allerdings ganz anders daher. „Con toda palabra“ wird auf spanisch gesungen und klingt noch folkloristisch. Die Musik stammt von Lhasa selbst in Zusammenarbeit mit YVES DESROSIERS und VINCENT SÉGAL.
Lhasa de Sela: „Con toda palabra“ • CD „The Living Road“ • 2003
Mit jedem Wort (con toda palabra) drückt Lhasa in diesem Lied ihre zärtliche und verwundbare Liebe zu ihrem Geliebten aus.
Hier eine Live-Fassung des Titels aus dem Jahr 2004 in Paris.
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Ein letztes Lied von dieser CD soll noch einmal den musikalischen Wandel der Sängerin verdeutlichen. „Anywhere on this road“ handelt von dem Leben auf der Straße, dem Leben als Straße. Eine Reise auf einer „lebenden Straße“, der Lebensweg. Es ist ein Lied über Lhasas Leben. Ein Leben auf vielen Straßen, ständigem Reisen und immer wieder der Frage nach Heimat.
„You've travelled this long / You just have to go on
Don't even look back to see / How far you've come
Though your body is bending / Under the load
There is nowhere to stop / Anywhere on this road“
Musikalisch ist es eines der mächtigsten Titel auf dem Album. Dies ist zum einen der rhythmischen Wucht eines großen Glockenspiels, wie es auch auf „Tubular Bells“ von MIKE OLDFIELD zu hören ist, zu verdanken. Andererseits erzeugt die Trompete von IBRAHIM MAALOUF einen solchen Groove, das man irgendwann in den Rhythmus hineingezogen wird. Auch hier schwebt wieder der musikalische Geist eines TOM WAITS über allem.
Lhasa: „Anywhere on this road“ • CD „The Living Road“ • 2003 (Der Text steht unterhalb des Videos)
Hier eine akustische, eher percussive Live-Fassung (BBC 2005)
Und hier eine tänzerische Umsetzung der Musik, meist als verfremdete Animation einer jungen Kunststudentin. Leider reichte es nicht für die gesamte Länge des Stückes.
Und schließlich: Ein Liveauftritt aus dem Jahr 2016 in Paris mit dem Trompeter IBRAHIM MAALOUF und der französisch-israelischen Sängerin YAEL NAIM. Absolut sehens- und hörenswert!
Ibrahim Maalouf feat. Yael Naim: „Anywhere on this road“
„Lhasa“ (2009)
Wieder sind 6 Jahre vergangen, bis Lhasa, inzwischen im kanadischen Montreal heimisch geworden, ihr nächstes Album herausgibt: „Lhasa“. Einfach nur Lhasa.
Das eigentliche Cover enthält nichts weiter als diese fünf Buchstaben. Es steckt aber ein Blatt vor dem Text-Heftchen mit dem Schriftzug und einem verfremdeten Foto Lhasas sowie Hinweise zu den Tournee-Terminen in Frankreich im Jahr 2009 auf der Rückseite.
12 Titel enthält die CD, alle auf englisch. In der Besetzung und stimmlich sehr zurückgenommen, fast leise. Klavier, Gitarren, akustischer Bass, Schlagzeug und Harfe. Einmal ist eine Violine zu hören.
Lhasa: „Love came here“ • CD „Lhasa“ • 2009 (Der Text kann im ersten Kommentar mitgelesen werden)
Hier eine Live-Fassung von „Love came here“ im intimen Rahmen vor wenig Publikum aus Montreal im Jahr 2009.
„Love came here and never left / Now I'll have to live with loving you forever
Although our days of living life together / Of living life together are over“
Ein eigenartiges Liebeslied. Die Sängerin erzählt davon, dass die Liebe kam und nie mehr fortging, dass sie jetzt für immer mit der Liebe zu ihm leben muss, obwohl die Tage des gemeinsamen Lebens vorbei seien.
In dem über 6-minütigen Lied „I’m going in“, in dem Lhasa sich allein auf dem Klavier begleitet, heißt es im Text:
„When my lifetime had just ended / And my death had just begun
I told you I’d never leave you / But I knew this day would come.
I’m ready to go now / I’m going in, I’m going in“
Und in „1001 Nights“ singt sie:
„A thousand and one nights of this / And then I will be free
My prison will be broken down / The dark will come undone.“
Lhasa: „1001 Nights“ • CD „Lhasa“ • 2009
Beim Durchhören der CD bleibt ein merkwürdiges Gefühl zurück. Irgendetwas ist anders. Der Musik fehlt es an Kraft und Spielfreude. Die Kriegerin, wie Lhasa einmal genannt wurde, klingt sehr innerlich und nachdenklich, fast zerbrechlich.
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Es war der 1. Januar 2010. Das neue Jahr hatte gerade begonnen. Für Lhasa de Sela war es nur dieser erste Tag. Nach 21 Monaten verlor sie ihren Kampf gegen den Brustkrebs und verstarb im Alter von nur 37 Jahren in der Neujahrsnacht.
Heute auf den Tag vor 14 Jahren.
Möge Lhasa nach einem so bewegten Leben ihre Ruhe gefunden haben.
Nachdem Lhasa de Sela verstorben war, hat es in Montreal vier Tage ununterbrochen geschneit. Ihre Freunde meinten, es war eine letzte Nachricht von ihr …
Lhasa de Sela (1972 – 2010) • Foto: Ryan Morey https://lhasadesela.com
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Nachtrag 1:
2017 erschien eine CD von einem Konzert 2009 in Reykjavik. Es enthält Lieder ihrer bisherigen CDs sowie auch einige „neue“ Songs. Das Coverbild stammt wiederum von Lhasa. Ein Selbstportrait…
CD: Lhasa "Lhasa" (Albumtitel)
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Nachtrag 2:
BOB DYLAN singt in seinem 1997 erschienenen Song „Not Dark Yet“:
„It’s not dark yet but it’s gettin’ there.“ – Es ist noch nicht ganz dunkel, aber es wird’s bald sein.
„It’s not dark yet“ – Im übertragenen Sinne gilt diese Zeile auch für eine Reihe von Musikern, die nach ihrem Ableben leicht in Vergessenheit geraten. Musiker, die es nicht verdient haben, auf immer zu verstummen, weil sie auf ihre Weise Einzigartiges geschaffen haben, obwohl der ganz große Erfolg ausgeblieben ist. Und weil man in der heutigen Radiolandschaft, die immer mehr auf Mainstream und Altbekanntes setzt, kaum noch Möglichkeiten hat, solche Musik kennenzulernen.
Nachdem Lhasa de Sela im Jahr 2010 verstarb, ist es noch nicht ganz dunkel um ihre Musik geworden. Besonders in Kanada wird die Erinnerung an ihre Musik wachgehalten. In Montreal wurde ein Park nach ihr benannt.
Mit diesem Blog möchte ich einen winzigen Beitrag leisten, dass es nicht ganz dunkel um Lhasa de Sela wird. Mit dem Vorstellen ihrer Musik ist die Hoffnung verbunden, dass der eine oder die andere Gefallen daran findet und sich weiter mit ihr beschäftigt. Und dabei vor allem die Musik hört. Am besten nicht über Youtube und schon gar nicht über spotify und Konsorten, sondern von CD. Mit einer guten Musikanlage. Und mit Hingabe an die unvergleichliche Musik von Lhasa de Sela…
Teil 1 von NotDarkYet beschäftigte sich mit dem amerikanischen Musiker SANDY BULL.
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Nachtrag 3:
Film: „I’m Going In“ , ca 30 min. Ein sehr intensiver Film. Lhasa de Sela probte das Material ihres dritten Albums in Vorbereitung auf eine neue Tournee. Zwischenzeitlich war bei ihr Krebs diagnostiziert worden, den sie bekämpfte und fast überwunden hatte.
• YT-Video: Lhasa de Sela mit drei Ihrer Schwestern in einer Show des Zirkus Pochéros 1999 youtu.be/LVxulwlZcIk?si=e202ePrHkWOXIpoB
• YT-Video: LHASA – Festival les vieilles charrues 2004 youtu.be/E-qtvSSYwK0?si=GrgkbbHwOoeOoqyA
• YT-Video: Lhasa singt das Lied „La Llorona“in der Sendung 'Acoustic' auf TV5 Monde am 2. April 2004 youtu.be/6kMX_sxgH8g?si=7B_-WYV7DMglJNxd
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Quellenhinweise:
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/La_Llorona_(Folklore)
https://de.wikipedia.org/wiki/La_Llorona_(Volkslied)
[2] www.zeit.de/2004/14/M-Lhasa (leider hinter Bezahlschranke)
[3] https://www.byte.fm/blog/news/visionare-roadmovies-fur-die-ohren-8228/
[4] Kritik Lhasa_Blue 4/2004, Text: Uli Lemke. Die Seite lässt sich im Netz nicht mehr aufrufen
[5] https://de.wikibrief.org/wiki/Lhasa_de_Sela
• Website von Lhasa https://lhasadesela.com/
• Roman Rhode: Sehnsucht ohne Ort https://taz.de/!795381/
• Interview mit Lhasa http://archiv.folker.de/200402/10lhasa.htm