In diesem Blog geht es um Sandy Bull. Nicht zu verwechseln mit Sitting Bull, dem Stammeshäuptling der Sioux-Indianer. Auch nicht mit Sandy Denny, der britischen Sängerin der Fairport Convention. Und erst recht nicht mit jener Sandy, die sich 1967 in Wien beim Eurovision Song Contest barfuß mit „Puppet on a String“ den ersten Platz ersang. Von einem Sandy (Ricks) aus der Kinderserie „Flipper“ erst gar nicht zu reden.
Sandy Bull also. Wer aber ist Sandy Bull? Zunächst einmal gilt es festzuhalten, dass es sich um eine männliche Person handelt. Von Geburt an und vermutlich aus innerster Überzeugung. Der Vorname Sandy ist, wie man nachlesen kann, sowohl ein männlicher als auch ein weiblicher Vorname. Je nachdem.
Alexander „Sandy“ Bull war Musiker, vornehmlich in den 1960er und 70er Jahren. Jemand, der nahezu jedes Saiteninstrument spielte, dessen er habhaft werden konnte: Banjo, akustische und elektrische Gitarre, Pedal Steel, Bass, Oud, Sarod. Die letzten beiden Instrumente deuten auf sein Interesse an fernöstlicher Musik hin. Auf seinen Alben spielte er oft mehrere Instrumente gleichzeitig, mit Hilfe eines für heutige Verhältnisse einfachen 4-Spur-Tonbandgerätes. Anfangs nahm er mitunter einen Schlagzeuger hinzu, später dann wurde dieser durch eine für heutige Verhältnisse primitive Drum Machine ersetzt. Sandy Bull war halt ein Einzelgänger, gerade auch auf der Bühne.
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Sandy Bull: Album „Inventions for Guitar and Banjo“ 1965
Raga-inspirierte Erkundung des Rock‘n‘Roll
Auch wenn das folgende Stück eher untypisch für ihn ist, so ermöglicht es vielleicht am ehesten einen Zugang zu seiner Musik – was das Ansinnen dieses Blogs ist – , handelt es sich doch um die Coverversion eines allseits bekannten Rock‘n‘Roll-Titels: „Memphis, Tennessee“ von CHUCK BERRY. Bull macht aus dieser zweiminütigen B-Seite der 1959 veröffentlichten Single ein fast 10-minütiges Instrumental-Stück mit ausgedehnten Gitarrenimprovisationen. Man sollte sich die Zeit nehmen, sich auf diese Musik einzulassen, sie zu genießen und sich von ihr möglicherweise davontragen zu lassen, ob nach Memphis oder wohin auch immer …
SANDY BULL: „Memphis, Tennessee“ aus dem Jahr 1965:
Anmerkung: Bei der hier im Video verwendeten LP handelt es nicht um das Original-Album, sondern um eine spätere Compilation. Der Titel ist jedoch identisch.
Sandy Bull spielt hier eine elektrische Rhythmusgitarre, eine Leadgitarre und einen Fender Bass. Am Schlagzeug sitzt nicht irgendein Drummer, sondern kein geringerer als BILLY HIGGINS (1936 – 2001), der als anerkannter Jazzmusiker zu jener Zeit u.a. mit dem außergewöhnlichen Saxophonisten ORNETTE COLEMAN spielte.
Diese Fassung von „Memphis, Tennessee“ wurde im Jahr 1965 auf VANGUARD RECORDS veröffentlicht, einem Label, das seit den 1950er Jahren bekannt war für seine authentischen Blues- und Folkveröffentlichungen. Der Sound der Leadgitarre ist typisch für die 1960er Jahre.
Man hört sofort, dass Sandy Bull seine eigene Art hat, den Klassiker von Chuck Berry zu interpretieren. In einer Besprechung ist treffend von einer „10-minütigen Solo-Erkundung auf der elektrischen Gitarre“ die Rede [1]. Auch eine andere Kritik bringt es gut auf den Punkt:
„Bulls Version des Chuck Berry-Klassikers 'Memphis, Tennessee' entführt den Hörer direkt in die Sümpfe des südlichen Bayou. Hier wird der Zuhörer mit einer weiteren wunderbar ausdrucksstarken Darbietung verwöhnt, bei der Bull mit Hilfe von Higgins die interessantesten Bestandteile des Songs zu extrahieren und sie in destillierter Form wieder einzufügen scheint. Bull und Higgins … reisen für Teile des Songs nach Osten und verwenden Raga-inspirierte Elemente, um der bluesigen Melodie ein exotisches Gefühl zu verleihen. Es war ein weiterer genialer Schachzug von Bull, diese beiden Ansätze miteinander zu verschmelzen, denn der wahre Ursprung der pentatonischen Tonleiter – auf der Blues und Rock‘ n' Roll zum großen Teil beruhen – kam ursprünglich aus Indien nach Westafrika.“ [2, deutsche Übersetzung wie bei allen englischen Zitaten mit www.deepL.com]
Wenn das kein Grund ist, dieses Stück gleich nochmals zu hören …
Der Titel erschien auf Sandy Bulls zweiter LP „Inventions for Guitar and Banjo“ im Jahr 1965.
Sandy Bull: Album „Inventions for Guitar and Banjo“ 1965
Sandy Bull und Bob Dylan
Sandy Bull wurde 1941 in New York geboren, im gleichen Jahr wie Bob Dylan. Bull stammte aus einem musikalischen Elternhaus. Seine Mutter spielte Harfe und gab Konzerte unter dem Titel „Von Bach zum Boogie-Woogie“. Bull sollte dieses Prinzip der Mischung (englisch: Blend) von Musikgenres später übernehmen. Als Jugendlicher lernte er Banjo, inspiriert von PETE SEEGER, danach Gitarre – obwohl er anfangs sehr vom Dudelsackspiel beeindruckt war [3] – wegen des „dröhnenden“ Klangs. Auch diesen Effekt setzte er später durch eine besondere Stimmung seiner Gitarre in seiner Musik um. Er studierte Komposition in Boston, interessierte sich aber auch schon früh für arabische und indische Musik.
Ebenso wie Dylan zog es Bull Anfang der 1960er Jahre in die Folkclubs von Greenwich Village in New York. Beide Musiker waren auf ihre Weise einzigartig unter den zahlreichen jungen, neuen Songwritern des Folkrevivals und der Bürgerrechtsbewegung, die bereits zuvor mit Woody Guthrie, Pete Seeger, den Weavers oder dem Kingston Trio aufblühte. Einzigartig also: Der eine durch sein äußerst selbstbewusstes Auftreten, der als junger, noch pausbackiger Spund bereits vom Tod sang („In My Time Of Dyin'“, „See That My Grave Is Kept Clean“ auf seiner ersten LP 1962). Der andere als „Vorbote der Weltmusik“ [4] durch seine ungewöhnliche Mischung von klassischer Musik mit Jazz, Folk und östlicher Musik.
Das war es dann aber auch schon mit den Gemeinsamkeiten zwischen Bull und Dylan. Bull, der keine Ambitionen auf ein typisches Songwriter-Dasein hatte und von daher instrumental unterwegs war, zog es 1963 nach San Francisco, wo er Jahre später arg mit Drogen zu kämpfen hatte. Während Robert Zimmerman seinen Weg als Bob Dylan unbeirrt von dem ging, was sich sein Publikum von ihm wünschte („Judas“ wurde ihm bekanntlich im Mai 1966 zugerufen, als er die akustische Gitarre gegen eine elektrische tauschte und als Antwort mit einem lauten „Like a Rolling Stone“ zum Rockmusiker wurde) und letztlich trotz zahlreicher weiterer musikalischer Wandlungen erfolgreich blieb, blieb Sandy Bull der kommerzielle Erfolg verwehrt.
Hypnotische gitarrengetriebene Meditation
Es wird gesagt, dass auch Sandy Bull mit seiner Musik einen Einfluss auf Musiker ausgeübt hat, von Jimi Hendrix über Steve Winwood bis zu Patti Smith. Mehr noch: Sandy Bull hat „Weltmusik“ gespielt, als dieser Begriff noch gar nicht existierte. Als George Harrison von Ravi Shankar das Sitarspiel erlernte, hatte Sandy Bull schon längst fernöstliche mit westliche Musik integriert. Als die Beach Boys ihr „FUN FUN FUN“ anstimmten und die Beatles Musikbox-gerecht in nicht mehr als zwei Minuten darüber sangen, dass SIE DICH LIEBT, begann Sandy Bull sein erstes Album mit einer 22-minütigen, von indischen und arabischen Einflüssen geprägten „hypnotischen gitarrengetriebenen Meditation“ [5]. Wobei nichts gegen die Musik der Beach Boys oder der Beatles gesagt werden soll. Nur konnte sich die künstlerische Ausrichtung eines Sandy Bull naturgemäß nicht gegen den immensen Erfolg der Surf- und Beatmusik durchsetzen.
Und damit sind wir beim Debut-Album unseres Künstlers: „Fantasias for Guitar and Banjo“, 1962 aufgenommen und ein Jahr später veröffentlicht, ebenfalls auf Vanguard Records.
Sandy Bull: Album „Fantasias for Guitar and Banjo“ 1963
Hören wir die komplette A-Seite, auf der Bull – durchaus eigenwillig und selbstbewusst – sich gleich mit einem 22-minütigen Titel in Szene setzt: „Blend“. Aufgenommen im eigenen Wohnzimmer, wurde es in einer spontanen Improvisation aufgenommen. In nur einem einzigen Take, ohne nachträgliche Bearbeitungen.
SANDY BULL: „Blend“ aus dem Jahr 1963:
Der Titel „Blend“ ist Programm: Bull vermischt (englisch: to blend) hier alle Musikrichtungen, die er kennengelernt hat. Vom Dudelsack aus seiner Kindheit mit seinen „dröhenden“ Klängen, die er durch das Stimmen der beiden höchsten und der tiefsten Saite seiner Gitarre in B als Bordun [6], das heißt als durchgehend mitklingenden tiefen Ton erzeugt, über Jazzimprovisationen, arabischen Akkorden und indischen Ragas [7] bei denen der Grundton als durchgehender Klangteppich und damit wiederum als Bordun „dröhnt“.
Besonders stark beeinflusst war er Anfang der 1960er Jahre von dem Oudspieler HAMZA EL DIN [8], den er in Rom kennenlernte, als er auf dem Weg nach Beirut war, um eine Oud zu erwerben. Aber auch die Musik des indischen Musikers ALI AKHBAR KHAN, der 1955 auf Einladung von Sir Yehudi Menuhin erstmals in die USA kam und Mitte der 1960er Jahre in Kalifornien eine Musikschule eröffnete, war Bull bestens bekannt.
Hier einige Zitate zu „Blend“:
„Das Album ist vielleicht die erste derartige Verschmelzung von Stilen, die jemals im Folk-Idiom versucht wurde, und besteht aus atmosphärischen, mehrspurigen, östlich beeinflussten Instrumentalstücken“ … „Die intensive und anspruchsvolle Platte ist ein klarer Vorbote der Psychodelia und ein Meilenstein in der Entwicklung des amerikanischen Underground-Folk.“ [9]
„Blend ... ist ein ansteckender klanglicher Exkurs, der fabelhafte Welten erkundet, gefiltert durch das Gefühl eines volkstümlichen Geschichtenerzählers, wobei sich langsame und transzendente Teile mit furiosen Jams abwechseln. Die Atmosphäre ist oft psychedelisch, zwei Jahre bevor die psychedelische Bewegung geboren wurde.“ [10]
Hochwald. Sandy Bull: Album „Fantasias For Guitar and Banjo“ 1963
Auf dem Banjo zurück ins 13. Jahrhundert
Die B-Seite beginnt entsprechend des Albumtitels „Fantasias For Guitar and Banjo“ mit einem ebensolchen. Auf dem Banjo spielt Bull den allseits bekannten Teil aus der Carmina Burana: „O Fortuna“. Hier allerdings ohne Chor, ohne Orchester. Lediglich auf den 5 Saiten eines Banjos.
SANDY BULL: „Carmina Burana Fantasy“ aus dem Jahr 1963:
Sicherlich für den einen oder die andere gewöhnungsbedürftig, diese Musik auf einem Banjo zu hören. Nun denn. Wer sich, wie 52 Millionen Menschen auf YT zuvor, das mitreißende und imposante Stück in großer Besetzung anhören möchte, bitte schön: Carl Orff - O Fortuna ~ Carmina Burana
Das Album enthält noch drei weitere Stücke: ein kurzer Kanon von William Byrd, einem Zeitgenossen Shakespeares, eingespielt mit gleich zwei Banjo-Stimmen und einer akustischen Gitarre. Des Weiteren ein „Southern Mountain Standard“ sowie einem fast zehnminütigen Gospel, gespielt auf einer Fender Gitarre.
Erfindungen auf der Basis des Mittelalters und des Barock
Man stelle sich vor, die Beatles hätten nach der Veröffentlichung ihres ersten Albums „Please Please Me“ im Jahre 1963 (also im gleichen Jahr wie die erste LP von Sandy Bull) auf ihrer zweiten Platte einen Titel wie „Love Me Do“ oder „Twist and Shout“ in etwas anderer Fassung nochmals eingespielt. Undenkbar, wenn auch dank des übergroßen Erfolgs dieser Band durchaus vorstellbar. Aber so etwas „macht man einfach nicht“.
Nicht so Sandy Bull. Zwei Jahre nach Veröffentlichung seiner ersten LP erscheint das Nachfolge-Album „Inventions for Guitar and Banjo“. Anstelle von Fantasien nun also Erfindungen für die beiden Saiteninstrumente. Wobei jetzt auch noch die Oud, die elektrische Gitarre und der elektrische Bass hinzukommen.
Und wie heißt wohl das erste Stück, das wiederum (fast) die gesamte erste Plattenseite einnimmt? „Blend II“. Wieder eingespielt mit dem Drummer Billy Higgins. Diesmal mit 24:21 sogar noch gut zwei Minuten länger als „Blend“. Tja, dieser Bull traut sich was! Oder fällt ihm etwa nichts Neues mehr ein? Das „schwierige zweite Album“, wo so manchem Künstler bereits die Ideen ausgehen? Nein, ganz im Gegenteil. Insgesamt bilden die beiden Alben eine zusammengehörige Einheit, ein Paar mit gleichem musikalischen Anspruch und gleicher musikalischer Vielfalt. Natürlich ist die zweite Fassung von „Blend“ kein billiger Abklatsch des Originals. Es ist, wie der Albumtitel bereits andeutet, eine neue „Erfindung“ seiner musikalischen Ideen. Wer „Blend“ mag, wird auch von „Blend II“ begeistert sein.
Schweren Herzens (Ach!) muss hier auf diese Fassung von "Blend" verzichtet werden.
Stattdessen zunächst die knapp zweiminütige „Gavotte No. 2“ von JOHANN SEBASTIAN BACH aus der „Suite No. 5“, die Bull sowohl mit elektrischer als auch mit akustischer Gitarre eingespielt hat. Hier die akustische Fassung.
SANDY BULL: „Gavotte No.2“ aus dem Jahr 1965:
Und hier ein Stück aus dem 14. Jahrhundert, komponiert von GUILLAUME DE MACHAUT, gespielt mit Oud, Banjo und Gitarre.
SANDY BULL: „Triple Ballade“ aus dem Jahr 1965:
Und was folgt auf der LP nach diesem mittelalterlichen Titel? „Memphis, Tennessee“ von CHUCK BERRY... Tja, wohl ganz die Mutter: „From Bach to Boogie Woogie“ ...
Aller guten Dinge sind drei
Diese Redewendung, die übrigens ebenfalls aus dem Mittelalter stammt, gilt auch für das Werk von Sandy Bull. 1969 veröffentlichte er sein drittes Album auf Vanguard Records: „E Pluribus Unum“. Es ist, der damaligen Zeit geschuldet, sein psychedelisches Album und enthält lediglich zwei meditative und daher entsprechend lange Titel. Man könnte es ahnen: Wieder interpretiert Sandy Bull sein „Blend“, diesmal als „Electric Blend“ mit zahlreichen elektrischen Verzerrungen, indem er das Signal seiner Gitarre auf vier verschiedene Verstärker verteilt.
Sandy Bull: Album „E Pluribus Unum“ 1969
Hören wir die A-Seite mit dem „No Deposit, No Return Blues“. Eigentlich ein simpler 12-bar Blues. Aber was Bull daraus macht, ist einzigartig. Er spielt Gitarre, Bass, Schlagzeug, Oud und Hi-Hat-Becken im Multitrack-Verfahren. Sehr eindrucksvoll setzt er zusätzlich ab der Mitte des Stückes eine Cowbell ein, also eine Kuhglocke, was der Musik einen treibenden Rhythmus gibt. An einer dieser Stellen entfährt ihm ein jauchzender Begeisterungsruf, wie man ihn nur von Liveaufnahmen kennt. Dieser Funke der Begeisterung könnte auch auf den Zuhörer überspringen: Auf dass man sogleich auf die nächste Bergweide laufen, einer Kuh ihr „Ortungsgerät“ entreißen und auf der Stelle mitspielen wollen möge …
SANDY BULL: „No Deposition No Return Blues“ aus dem Jahr 1969:
Es ist herauszuhören, dass Bull einen einfachen Mehrspur-Rekorder verwendet. Mitunter kommen der Einsatz und der Wechsel der Cowbell etwas abrupt und nicht ganz exakt abgestimmt auf die übrigen Instrumente. Was heute mit jedem Laptop ohne große Mühe perfekt eingespielt werden kann, musste Ende der 1960er Jahre noch mühsam zusammengschnipselt werden. Aber das macht ja heutzutage vielleicht gerade den Reiz solcher Aufnahmen aus.
Von nun an ging‘s bergab …
Zerstörung – das ist das Thema seines vierten Albums „Demolitian Derby“. Das Cover zeigt ein völlig zerstörtes Gebäude, davor steht Sandy Bull und zeigt mit etwas linkischer Geste auf (sein?) Werk. Entsprechend verstörend ist der überwiegende Teil der Musik. Bull selbst räumt später ein, dass das Album größtenteils misslungen war. Lediglich PATTI SMITH äußert sich in einer Kritik positiv: „Yeah, it‘s a real cool record!“ [11]
Sandy Bull war Anfang der 1970er Jahre dabei, auch seinen eigenen Körper zu zerstören. Er war längst fest im Griff von harten Drogen. BOB DYLAN holte ihn schließlich 1974 zurück auf die Bühne, indem er ihn einlud, bei seiner Rolling Thunder Revue mitzumachen. Auch PATTI SMITH gab ihm Auftrittsmöglichkeiten.
Nur die Plattenfirmen winkten ab. 16 lange Jahre gelang es ihm nicht, einen Platten-vertrag zu bekommen. Dies lag auch daran, dass er sich strikt weigerte, so zu spielen wie auf seinen beiden ersten Alben: „I was always trying to do something a little different, change, try different approaches. So I didn‘t want to repeat myself“. [12]
Erst 1988 kam er wieder unter Vertrag und brachte ein weiteres Album heraus: „Jukebox School of Music“. Eine bunte Mischung aus Salsa, Steel Guitar, Country-Schnulzen und brasilianischer Musik. Sogar ein Titel mit BILLY HIGGINS war dabei.
1992 erschien ein weiteres Album „Vehicles“, diesmal auf seinem eigenen Label Timeless Recording Society. Dieses Album knüpft noch am ehesten an seinen frühen ernsten Musikstil an. Inzwischen war er nach Nashville umgezogen. Seine letzte Platte „Steel Tears“ von 1996 war ein Gesangsalbum, obwohl er zu Beginn seiner Musikerlaufbahn auf das Singen verzichten wollte und wohl auch – zu recht – kein Vertrauen in seine Gesangskünste hatte. Im gleichen Jahr erkrankte Bull an Krebs, ihm musste ein Lungenflügel entnommen werden.
Fünf Jahre später, am 11. April 2001 verstarb Sandy Bull mit 60 Jahren an Lungenkrebs.
Live am Valentinstag
Zum Glück gibt es zwei Live-Aufnahmen seiner Musik:
1969 wurde ein Konzert in Los Angeles aufgezeichnet: „Still Valentin‘s Day 1969“. Hier kann man in einer Live-Atmosphäre erleben, wie Bull mit seiner Vierspur-Bandmaschine seine „Hits“, die eben leider keine waren, auf die Bühne brachte. Das Konzert, bei dem auch der Ausnahmegitarristen JOHN FAHEY auftrat, stand unter einem mehr als ungünstigen Stern: Bull verliert am Tag des Konzerts einen Großteil seiner musikalischen Ausrüstung und muss sich auf die Schnelle eine neue Gitarre und neue Verstärker besorgen …
1976 trat Sandy Bull im Vorprogramm von LEO KOTTKE in Berkeley/San Francisco auf. Während Bull für sein Konzert eine „Rhythmusmaschine“ auf die Bühne wuchtete („Sandy Bull & The Rhythm Ace“), stellte ein Zuhörer sein mitgebrachtes Tonband auf und schnitt alles mit. 2012 kam dieses Konzert als Album auf den Markt.
LEO KOTTKE und JOHN FAHEY gelten ebenfalls als Pioniere auf ihrem Instrument, indem sie mit einigen anderen Musikern den Begriff „American Primitive Guitar“ prägten. Auch Bull wird häufig dazugezählt, wobei jedoch anzumerken bleibt, dass dieser Künstler eher in einer, seiner eigenen Liga spielt. Einzelgänger eben.
Hören wir zum Schluss also noch eine Live-Aufnahme.
Natürlich „Memphis, Tennessee“, was sonst?
SANDY BULL: „Memphis, Tennessee“ Live aus dem Jahr 1969:
Sandy Bull – ja und?
Im Grunde sind es also die ersten drei Alben, die man von Sandy Bull zur Kenntnis nehmen sollte. Alles andere ist eher für Sammler und Liebhaber.
Warum aber hat kaum jemand von diesem Künstler gehört?
Weiter oben wurde der beklagenswerte Nicht-Erfolg des Sandy Bull im Gegensatz zu anderen Musikern beschrieben. Nun mag man einwenden, dass das Schicksal des Vergessenwerdens vielen Möchtegern-Musikern zuteil wird, sicherlich oft zu Recht, reicht das künstlerische Potential doch mitunter gerade mal für ein Album oder eine kurze Zeit der Aufmerksamkeit in der Szene. Aber eben nicht immer. Manchmal gerät das musikalische Werk eines Künstlers zu Unrecht in Vergessenheit. Künstlerische Qualität hat eben nicht immer Berühmtheit und Erfolg zur Folge, zumal unter Berücksichtigung der Zeit, in der sie entstand. Wer heutzutage z.B. Bluesmusik von lebenden, oftmals blutjungen Musikern hört, sollte zum besseren Verständnis dieser Musik auch wissen, wie die Anfänge dieses Musikstils verliefen, welche Künstler mit ihrem Gitarrenspiel das Bluesschema in die Welt getragen haben. Musiker wie Robert Johnson, Leadbelly, Charlie Patton und viele, viele andere, die heute nur noch wenigen bekannt sind, haben den Blues geprägt und waren Vorbild für vermutlich die meisten der späteren, vor allem auch weißen Bluesmusiker.
Und so kann Sandy Bull, ohne ihn in den Rang eines Robert Johnson heben zu wollen, als einer der ersten angesehen werden, der die verschiedensten Musikstile „mischte“ und so zu einem Begründer der so genannten Weltmusik wurde.
Not Dark Yet – Noch nicht ganz vergessen
Eine letzte Assoziation zu Dylan sei gestattet:
Das Album „Time Out of Mind“ von 1997 enthält den düsteren Titel: „Not Dark Yet“. Die letzte Strophe lautet:
„I was born here and I′ll die here against my will
I know it looks like I'm movin′ but I'm standin′ still
Every nerve in my body is so naked and numb
I can't even remember what it was I came here to get away from
Don′t even hear the murmur of a prayer
It's not dark yet but it's gettin′ there“. [13]
Es ist also noch nicht ganz dunkel, aber es wird‘s bald sein. Wir wissen nicht, ob Dylan dabei bereits an seinen Tod dachte.
„It‘s not dark yet“ – Im übertragenen Sinne gilt diese Zeile auch für eine Reihe von Musikern, die nach ihrem Ableben Gefahr laufen, der Vergessenheit anheim zu fallen. Musiker, die es nicht verdient haben, auf immer zu verstummen, weil sie auf ihre Weise Einzigartiges geschaffen haben, obwohl der ganz große Erfolg ausgeblieben ist.
Nachdem Sandy Bull im Jahr 2001 verstarb, ist es noch nicht ganz dunkel um ihn geworden. Besonders in den USA gibt es zahlreiche Internetseiten, auf denen an den Musiker und seine Bedeutung für die Musikwelt erinnert wird.
Mit diesem Blog möchte ich einen winzig kleinen Beitrag dazu leisten, dass es auch hier bei uns nicht ganz dunkel um ihn wird. Mit dem Vorstellen einiger weniger Titel dieses Künstlers ist die Hoffnung verbunden, dass der eine oder die andere Gefallen an der Musik findet und sich weiter mit ihr beschäftigt. Und dabei vor allem seine Musik hört. Am besten nicht über Youtube und schon gar nicht über spotify und Konsorten, sondern von der guten, alten LP (die es online gottlob noch zu kaufen gibt) oder halt eben auch von CD.
Und was ist mit Marie?
In einigen meiner Musikblogs ging es um den Vornamen Marie. Auch in diesem Blog kommt eine Marie vor, wenn auch nicht explizit. Findet jemand das Mädchen?
Das Vermächtnis der Tochter
Im Jahr 2010 stellte K. Cassandra Bull (KC Bull) eine 45-minütige Dokumentation über ihren Vater fertig und zeigte sie in den USA in verschiedenen Kinos. Der zum Teil sehr berührende Film enthält private Filmaufnahmen der Familie, Interviews und natürlich Musik von Sandy Bull. Erst seit wenigen Monaten steht er auf YouTube zur Verfügung.
In einer Ankündigung des Films 2010 heißt es so treffend: „The film is KC Bull's understated way of saying, "Have you heard of my dad? No? Oh, you should." [14]
Dokumentation von KC Bull: „Sandy Bull – No Deposit, No Return Blues“ , 2010 , ca 45 min
„Some people seem to fade away
but then when they are truly gone,
it’s like they didn’t fade away at all.“
BOB DYLAN, Chronicles: Volume 1
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Quellenangaben:
[0] LP- und CD-Sammlung von HOCHWALD
[2] http://therisingstorm.net/sandy-bull-inventions/
[3] “I always liked bagpipe music, and eventually managed to get to play them – well at least I got to a point where I could make noises and keep them going for a minute or so. The sound of those things always did something to me“ https://www.ibiblio.org/mal/MO/philm/sandybull/friends.html
[4] https://jmeshel.com/275-sandy-bull-blend/
[5] https://insheepsclothinghifi.com/sandy-bull/
[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Bordun
[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Raga
[8a] https://de.wikipedia.org/wiki/Hamza_El_Din
[8b] youtu.be/js8zhtEx12o
[9] https://recordcollectormag.com/articles/strange-folk-usa
[10] https://www.scaruffi.com/vol1/bull.html
[11] https://www.sfgate.com/music/article/No-Bull-Remembering-the-father-of-multicultural-3192439.php
[12]https://web.archive.org/web/20091230142604/http://www.globalvillageidiot.net/Bull.html
[13] https://musikguru.de/bob-dylan/songtext-not-dark-yet-740519.html