„So sind hier die Leute“ – Von Schuld, Sünden und Böcken

Der Ziegenbock ist durchaus ein armes Schwein. Gemeinsam mit dem Borstenvieh und zahlreichen anderen Nutz- und Haustieren hat er seit Jahrhunderten Eingang in den menschlichen Sprachgebrauch gefunden. Leider meist nicht zu seinem Vorteil, gelten doch Aussagen wie „stinken wie ein Bock“, „sturer Bock“ oder gar „geiler Bock“ als wenig schmeichelhaft, von einer „Null-Bock-Mentalität“ ganz zu schweigen. Und wer den „Bock zum Gärtner macht“, der „schießt“ oftmals einen Bock und wird dabei gerne zum „Sündenbock“ abgestempelt.

Hochwald

Aus aktuellem Anlass soll an dieser Stelle auf den Begriff des Sündenbocks näher eingegangen werden.

Die Rolle des Sündenbocks

Was man unter einem Sündenbock versteht, dürfte jedem klar sein. Dennoch könnte es erhellend sein, sich einmal einige Definitionen dieses Begriffes anzuschauen:

„Sündenbock, eine Person, die stellvertretend für andere Personen für ein unangenehmes Ergebnis, Vergehen, Mißerfolg u.a. verantwortlich gemacht wird. Durch das Finden eines vermeintlich ,Schuldigen‘ (des ,Sündenbocks‘) wird auf dessen Kosten das Selbstwertgefühl erhöht oder die Gruppenkohäsion erhalten. (Lexikon der Psychologie)

„Sündenbock, ... danach jeder, der die Schuld anderer auf sich nehmen und für sie leiden muß. Auf diese Weise findet eine Entlastung von Schuldgefühlen statt. Oft lassen sich die wirklichen Urheber eines Übels nicht fassen, und man findet statt ihrer einen, der sich nicht wehren kann. Oft handelt es sich um Feindseligkeiten innerhalb einer Gruppe, die man nicht austragen darf, wenn die Gemeinschaft aufrechterhalten werden soll; dann werden Haß und Rachegefühle auf eine Feindgruppe abgelenkt.“ (Katharina Weinberger, Psychologielexikon)

„Gebraucht wird der Sündenbock, wenn die Gemeinschaft innerlich zerrissen ist oder sich von einer Katastrophe bedroht fühlt. Indem eine falsche kausale Verbindung zwischen Bedrohung und dem ausgewählten Sündenbock hergestellt wird, kann das Übel veräußert und die Gemeinschaft wieder gereinigt und stabilisiert werden.“ (René Girard, Wikipedia, Sündenbock)

„Die soziale Rolle des Sündenbocks lässt sich auch einer ganzen Gruppe von Menschen per Attribution zuweisen. Sind Menschen frustriert oder unglücklich, richten sie ihre Aggression oft auf Personen oder Gruppen, die unbeliebt, leicht identifizierbar und machtlos sind.“ (Wikipedia, Sündenbock)

„Tatsächlich ist es nach der Sündenbocktheorie nicht ungewöhnlich, dass die Bösewichte selbst einen größeren Bösewicht brauchen, um die Schuld zu tragen. In Zeiten der Unsicherheit und Krise verstärkt sich dieses Phänomen. In solchen Zeiten können politische, religiöse oder kommunale Führer diesen archaischen und tief verwurzelten Drang, in anderen Kollektiven nach Sündenböcken zu suchen, zynisch ausnutzen, um die Aufmerksamkeit von ihren eigenen Unzulänglichkeiten und Fehlern abzulenken und ihren Anteil an Schuld und Verantwortung zu entlasten.“ (Loris Valentin, Schuld suchen: die Sündenbocktheorie in der Sozialpsychologie)

Soweit, so ungut.

Doch woher kommt die Redewendung „Jemanden zum Sündenbock machen“?

Redewendungen stammen meist entweder aus dem Mittelalter oder aber aus der Bibel. Der Sündenbock hat einen biblischen Ursprung, obwohl der Begriff erst seit der Bibelübersetzung Luthers geläufig sein soll. Im Mittelalter mussten allerdings mitunter auch Tiere als Sündenböcke für Straftaten herhalten, wenn kein menschlicher Schuldiger ermittelt werden konnte. Solchen Tieren – ob Schwein, Maus oder Wolf – wurde regelrecht der Prozess gemacht, der dann im Tod am Galgen endete. Für das arme Schwein, das als Sündenbock herhalten musste...

Biblische Bedeutung des Sündenbocks

Das Wort „Sündenbock“ bezieht sich auf ein altes jüdisches Ritual zu biblischen Zeiten während des einmal jährlich stattfindenen Versöhnungstages Jom Kippur. Dabei wurden die gesellschaftlichen Sünden und Verfehlungen des Volkes von einem Hohepriester öffentlich bekannt und durch Handauflegen auf einen Ziegenbock übertragen, der danach, nunmehr symbolisch beladen mit der Schuld eines ganzen Volkes, in die Wüste geschickt (!) und dort seinem Schicksal überlassen wurde. Durch dieses Ritual des öffentlichen Bekennens der Schuld und dessen anschließender Übertragung auf ein anderes Lebewesen sowie des Verbannens dieses „Sündenbocks“ aus dem Kulturbereich und damit des Wegtragens aus der Gemeinschaft der eigentlichen Übeltäter, kam es zur Entsühnung und damit zur Versöhnung zwischen Gott und dem Volk Israel.

https://de.wikipedia.org/wiki/S%C3%BCndenbock

Hier der (gekürzte) Originaltext aus der Lutherbibel:

3. Mose 16:

„Und Aaron [der Bruder von Moses] soll einen jungen Stier, sein Sündopfer, darbringen, dass er für sich und sein Haus Sühne schaffe, und danach zwei Böcke nehmen und vor den Herrn stellen an den Eingang der Stiftshütte und soll das Los werfen über die zwei Böcke: ein Los dem Herrn und das andere dem Asasel, und soll den Bock, auf welchen das Los für den Herrn fällt, opfern zum Sündopfer. Aber der Bock, auf welchen das Los für Asasel fällt, soll lebendig vor den Herrn gestellt werden, auf dass über ihm Sühne vollzogen und er zu Asasel in die Wüste geschickt werden. [ ... ]

Dann soll Aaron seine beiden Hände auf dessen Kopf legen und über ihm bekennen alle Missetat der Israeliten und alle ihre Übertretungen, mit denen sie sich versündigt haben, und soll sie dem Bock auf den Kopf legen und ihn durch einen Mann, der bereitsteht, in die Wüste bringen lassen, dass also der Bock alle ihre Missetat auf sich nehme und in die Wildnis trage; und man schicke ihn in die Wüste.“

Das hier in der Lutherbibel beschriebene „Sündenbock-Ritual“ des Versöhnungstages Jom Kippur umfasst neben insgesamt drei Tieropfern auch Blutriten und Reinigungshandlungen. Alles diente im Wesentlichen dazu, Sühne zu schaffen:

– Sühne für Aaron und die Priesterschaft; hierzu wurde ein junger Stier geopfert

– Sühne für das „Heiligtum“ (Stiftshütte und Altar); hierzu wurde der durch Losverfahren ermittelte Bock „für den Herrn“ geopfert

– Sühne für das ganze Volk Israel; hierzu wurde der durch Losverfahren ermittelte zweite Bock mit den Sünden „beladen“ und „für Asasel“ (einem nicht näher beschriebenen Wüstendämon) in die Wüste geschickt

Rituelle Tieropfer finden sich in der Bibel zahlreich. Das Ritual eines Bockes, den man in die Wüste schickt, noch dazu zu einer möglicherweise weiteren Gottheit (Asasel), ist in der ganzen Bibel jedoch einzigartig.

Wer ausführlicher nachlesen möchte, z.B. hier:

https://www.bibleserver.com/LUT/3.Mose16 oder:

https://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/suendenbock-asasel/ch/247aa6905d029df1e022fe771fb698ce/

Heutiger Gebrauch des Sündenbocks

Wer heutzutage jemanden als Sündenbock oder eine abgegrenzte Gruppe als Sündenböcke bezeichnet, macht damit andere für eigene Verfehlungen verantwortlich und verschafft sich dadurch Erleichterung.

Auf Wikipedia wird dies sehr treffend formuliert:

„Dies kann auch mittels einer durch Machteliten verbreiteten Ideologie geschehen, die ein Feindbild bewusst entwickelt mit dem Ziel, bestimmte soziale, ethnische oder politische Minderheiten zum Sündenbock für aktuelle Krisenerscheinungen zu machen oder von der eigenen mangelnden oder schwindenden Legitimation abzulenken (siehe zum Beispiel Holocaust). Eine solche Projektion auf einen Sündenbock kann für die Bevölkerungsmehrheit eine identitätsstiftende Funktion bekommen.“ (Wikipedia, Sündenbock, Soziologische Relevanz des Begriffes)

Ein sehr wesentlicher Punkt aber unterscheidet den heutigen Gebrauch des Sündenbocks vom ursprünglichen Begriff: Anstatt die eigene Schuld – um nicht von Sünden oder Missetaten zu sprechen – zu erkennen und zu bekennen, wird sie ausschließlich bei anderen gesucht.

Das Volk Israel war also im Gebrauch des Sündenbocks wesentlich ehrlicher: Die Menschen haben sich in einem ersten Schritt offen und bewusst zu ihrem schuldhaften Fehlverhalten bekannt und erst nach diesem Erkenntnisprozess die Schuld rituell auf jemand anderen übertragen. Anders als vielfach in unserer Gesellschaft, wenn es gilt, einen Sündenbock ausfindig zu machen...

„So sind hier die Leute“

FRANZ JOSEF DEGENHARDT hat sich bereits 1968 mit dem Thema Schuldzuweisung auseinandergesetzt und seine Gedanken in einem wunderbaren Lied umgesetzt.

1968 – Auch nach über 50 Jahren noch aktuell?

Hier eine Live-Aufnahme aus dem Jahr 1998:

Text:

https://musikguru.de/franz-josef-degenhardt/songtext-so-sind-hier-die-leute-629989.html

P.S. Wer trotz der Ernsthaftigkeit des Themas etwas zum Schmunzeln haben möchte, bitte schön:

Auch GERHARD POLT hat sich so seine Gedanken über den Sündenbock gemacht:

QUELLEN:

SPEKTRUM, Online-Lexikon der Psychologie https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/suendenbock/15115

Katharina Weinberger: Psychologielexikon, Sündenbock http://www.psychology48.com/deu/d/suendenbock/suendenbock.htm

Wikipedia, Sündenbock https://de.wikipedia.org/wiki/S%C3%BCndenbock

Loris Valentin: Schuld suchen: Die Sündenbocktheorie in der Sozialpsychologie https://musa.news/de/cercasi-colpevole-la-teoria-del-capro-espiatorio-nella-psicologia-sociale/?amp

3. Mose 16, Der große Versöhnungstag https://www.bibleserver.com/LUT/3.Mose16

Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet, Sündenbock, Asasel, 2. Lev 16 https://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/suendenbock-asasel/ch/247aa6905d029df1e022fe771fb698ce/

Franz Josef Degenhardt: „So sind hier die Leute“ https://youtu.be/X_tblYybQ-8

Gerhard Polt & Biermösl Blosn: „Ein Responsabilist“ https://youtu.be/tWiO7porlMs

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