Georg Orwell hatte recht. Wieder einmal. Krieg ist Frieden. Umgekehrt ist, wer Frieden will, ein Kriegstreiber. Als wäre das nicht schon Gedankenakrobatik genug, ist inzwischen Frieden gar mit dem Teufel im Bunde. Wer sich für Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland ausspricht und dafür auf der Straße demonstriert, wird der Kriegstreiberei bezichtigt und als gefallener Engel, also als „Höllenbrut“, beschimpft.
Sturz des Satan • Gustave Doré, 1865 • Foto: wikipedia
So geschehen am 18.8.2023 während einer Wahlkampfveranstaltung der SPD auf dem Marienplatz in München. Dort redete sich jedoch nicht etwa ein drittklassiger Hinterbänkler aus der bayrischen SPD in Rage und damit um Kopf und Kragen, sondern der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland persönlich:
„Und die, die hier mit Friedenstauben rumlaufen, sind deshalb vielleicht gefallene Engel, die aus der Hölle kommen, weil sie letztendlich einem Kriegstreiber das Wort reden.“
Engel im freien Fall
Zur Klärung: Ein gefallener Engel ist ein von Gott verstoßener Engel. Ein solcher (B)Engel muss ganz schön viel auf dem Kerbholz haben, wenn der Allerhöchste ihn aus seinen Reihen entfernt. Der sich gegen die göttliche Ordnung auflehnende Engel wird aus dem Himmel verbannt und stürzt zur Erde. Derer, die sich Gottes Gehorsam verweigerten, gab es zu jener Zeit, wann auch immer es sich im Himmel abgespielt haben mag, gleich mehrere. Da es sich bei dem Anführer der abtrünnigen Geistwesen um den Teufel höchstpersönlich handelt, stürzt dieser naturgemäß in sein neues Reich, in die Hölle.
Für den eher theologisch als politisch Interessierten: Zu den möglichen Gründen für den Fall der Engel: siehe [1]
Im Neuen Testament heißt es in der Offenbarung des Johannes (Off. 12,3 ff): [2]
„Der Drache und seine Engel kämpften, aber sie konnten sich nicht halten und sie verloren ihren Platz im Himmel. Er wurde gestürzt, der große Drache, die alte Schlange, die Teufel oder Satan heißt und die ganze Welt verführt; der Drache wurde auf die Erde gestürzt und mit ihm wurden seine Engel hinabgeworfen.“ [1]
Erzengel Michael stürzt die abtrünnigen Engel • Luca Giordano, ca. 1655 • Kunsthistorisches Museum, Wien • Foto: wikipedia
Engel als Kriegstreiber
Was bringt den Bundeskanzler dazu, Bürger, die sich für Friedensverhandlungen und Waffenstillstand einsetzen, derart zu beleidigen? Streng betrachtet: Durch eine solche Diffamierung protestierender Bürger setzt er quasi die Demokratie außer Kraft. Denn mit „Höllenwesen“ muss man nicht diskutieren, solche „Kreaturen“ können nicht recht haben, mit deren Argumenten braucht man sich nicht auseinanderzusetzen.
Gegen eine solche maßlose Sprache ist die bisherige Beschimpfung Andersdenkender in Sachen Krieg als „Lumpenpazifisten“ (Sascha Lobo) ja geradezu niedlich.
Handelt es sich hier um eine spontane sprachliche Entgleisung? Dafür sprechen zum einen der unkorrekte Gebrauch der religiösen Metapher – gefallene Engel fallen in die Hölle und kommen nicht aus selbiger. Zum anderen mag dieser Wutausbruch der aufgeheizten Atmosphäre auf dem Marienplatz geschuldet sein. Bereits vorab wurden Trillerpfeifen „verboten“ (?). Dennoch war der Protest vieler Zuhörer derart massiv, dass die Lautsprecheranlage angeblich besonders aufgedreht wurde. Politiker sind vielleicht auch nur Menschen da liegen die Nerven schon mal blank. Aber auch bei einem Politikprofi wie Scholz?
Oder handelt es sich, wie in der Presse auch vermutet wird, um eine geplante, kalkulierte Bürgerbeschimpfung? Wenn man sich das Video der Rede anschaut, bekommt man eher diesen Eindruck.
Wie dem auch sei: Die vorab geäußerte Unterstellung des Kanzlers, die Friedensdemonstranten würden von den Ukrainern fordern, ihr Land erobern zu lassen und sich quasi gewaltlos zu ergeben, ist ebenso billig wie falsch. Überhaupt überzeugen auch weitere Teile seiner Rede rhetorisch nicht und werden durch ihre schlichte und einfache Sprache nicht einmal dem Anspruch einer guten Wahlkampfrede, zumal die eines Bundeskanzlers, gerecht. Sei es die „schlechte Laune“ der „rechten Populisten“ oder die Aussage, die Zukunft sei „hell, sie ist demokratisch und frei, sie besteht aus einem Land, in dem wir unterschiedlich sind, aber gerne zusammenleben.“ [3] Ja sicher doch.
Was auch immer Scholz mit seinen biblischen Worten sagen wollte, es ist menschenverachtend. Kritiker seiner Politik im wahrsten Sinne des Wortes zu verteufeln ist unmoralisch, undemokratisch, ja mehr noch: entmenschlichend.
Wer Frieden will, ist des Teufels. Orwell lässt grüßen. Aber so was von.
Angesichts dieser für mich maßlosen Sprache schlage ich mich augenblicklich auf die Seite der Demonstranten und sympathisiere mit dem Höllenfürst, dem Leibhaftigen, dem Antichrist, dem Fürst der Finsternis – dem gefallenen Engel eben.
„Pleased to meet you / Hope you guessed my name, oh yeah
But what's confusing you / Is just the nature of my game“
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Quellen
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Höllensturz
[2] Off. 12,3: z.B. hier: https://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/bibel/offb12.html
[3] Ausschnitt der Rede des Kanzlers: youtu.be/3OWzY8mWAYQ
• Bild: Sturz des Satan, Gustave Doré, 1865 https://de.wikipedia.org/wiki/Höllensturz
https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=678042
• Bild: Erzengel Michael stürzt die abtrünnigen Engel • Luca Giordano, ca. 1655 https://de.wikipedia.org/wiki/Höllensturz
• https://overton-magazin.de/kommentar/politik-kommentar/hoellisch-friedfertig/
• https://www.nachdenkseiten.de/?p=102716
• https://www.deutschlandfunkkultur.de/der-gefallene-engel-100.html