Es wäre langweilig und es wäre ziemlich sicher ungesund, wenn sich alle immer einig wären.
Kaum waren die ersten bangen Wochen Pandemie hinter uns, brach Streit aus. In den Parlamenten, an den Universitäten, in den Zeitungen – am Küchentisch und im Familienchat.
Manchmal wurde über Fragen gestritten, bei denen man aus guten Gründen unterschiedlicher Meinung sein kann: Wie scharf sollen die Corona-Regeln sein? Wie rasch soll die Impfung für Kinder zugelassen werden? Wo soll man Zugangsbeschränkungen aufrechterhalten? Welche Länder haben versagt, welche einen gangbaren Weg durch die Krise gefunden?
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Manchmal ging es aber auch um Thesen, die eindeutig falsch sind. Fast alle Geimpften würden bis im September sterben, hiess es zum Beispiel. Der September ist vorbei, die Geimpften leben noch. Es gab Gerüchte über Mikrochips oder giftiges Graphenoxid in den Impfstoffen, über angeblich katastrophale Nebenwirkungen; oder auch darüber, dass in Wahrheit nicht Viren, sondern 5G-Sendemasten für Covid-19 verantwortlich seien.
Das sind aussergewöhnlich steile Thesen. Die müssten ihre Verfechterinnen eigentlich auch mit aussergewöhnlich schlagkräftigen Argumenten belegen. Doch stattdessen heisst es oft: Ich stelle hier bloss etwas in den Raum! Das wird man doch wohl noch sagen dürfen! Wenn es nicht stimmt, dann sollen die Wissenschaftler das eben widerlegen! Und solange die Thesen nicht eindeutig widerlegt sind, darf man sie doch wohl mit gutem Recht für wahr halten und weiterverbreiten! Davon leben Debatten und die Demokratie, und am Ende sind wir alle schlauer.
Auf den ersten Blick wirkt das überzeugend.
Der Philosoph Karl Popper rückte diesen Gedanken sogar ins Zentrum seiner Wissenschaftsphilosophie: Für ihn war nicht entscheidend, wie man zu einer These gelangt ist, sondern ob sie prinzipiell widerlegbar ist. Die Behauptung «Die Zahl Fünf ist dunkelgrün» ist nicht widerlegbar – sie ist wissenschaftlich uninteressant, wir können sie ignorieren. Die Behauptung «In meinem Badezimmer wohnt ein Elch» ist widerlegbar – man kann nämlich ganz einfach nachsehen. Wenn man dann nachsieht, stellt man fest: Von einem Elch ist dort keine Spur, die Behauptung war also falsch. Aber bis zur Überprüfung muss der Elch nach Popper prinzipiell als wissenschaftliche These anerkannt werden.
Bis eben jemand nachsieht.
Wie ist das nun also bei Corona-Thesen? Hier gibt es oft folgendes Problem: Viele Thesen aus der Corona-«Querdenker»-Szene sind nämlich gar nicht falsifizierbar. Oft werden sie ganz bewusst auf merkwürdig unklare, schwammige Weise präsentiert. Das ist praktisch, denn wer nicht genau erklärt, was er meint, der kann auch nicht widerlegt werden.
Ein Beispiel, vielleicht haben Sie selber davon gehört oder gelesen, ist die sogenannte «Pathologie-Konferenz». Die sorgte im September für Aufsehen, als da zwei Pathologen (im Ruhestand) behaupteten, die Impfung sei für zahlreiche Todesfälle verantwortlich. Sie zeigten allerlei Bilder von Gewebeproben und behaupteten, durch Impfungen verursachte Schädigungen zu erkennen. Das wäre eine gewichtige, eine ernst zu nehmende, besorgniserregende These – wenn sie denn auf einigermassen wissenschaftliche Weise präsentiert worden wäre.
In der Präsentation der beiden Herren fehlten aber entscheidende Daten: Was waren das für Proben? Wie wurden sie ausgewählt? Und vor allem: Warum sollen die angeblich beobachteten Veränderungen mit der Impfung in Verbindung stehen? Die Präsentation dauerte über eine Stunde, aber die Grundaussage wurde nicht konkreter als: «Die Impfung ist irgendwie gefährlich.» Es gab zur Präsentation keine wissenschaftliche Publikation, nicht mal eine präzise schriftliche Beschreibung des Experiments. An keiner Universität der Welt würde man mit dieser Herangehensweise auch nur bei einem Anfängerseminar eine genügende Note bekommen.
Denn: Solche Thesen lassen sich nicht widerlegen – genauso wenig, wie man die Behauptung widerlegen kann, jemand sei mit einem unsichtbaren Elch befreundet, der nicht im Badezimmer wohnt, sondern auf feinstoffliche Weise in der fünften Dimension um seinen Kopf kreist. Das ist nicht nur nicht wahr, es ist nicht einmal falsch. Es ist einfach keine Wissenschaft. Und dann ist es völlig sinnlos, sich wissenschaftlich damit zu befassen.
Doch natürlich gibt es auch konkrete, überprüfbare Aussagen, die in Impfgegnerinnen- und «Querdenker»-Kreisen verbreitet werden: Die Impfung verursacht Krankheit X oder Nebenwirkung Y, Coronaviren gibt es gar nicht, Covid-19 wird in Wirklichkeit durch 5G-Sendemasten ausgelöst. Solche Thesen sind wenigstens klar formuliert und experimentell überprüfbar.
Da wäre doch die Wissenschaft dann verpflichtet, all diese Aussagen Punkt für Punkt zu untersuchen!
Nicht immer. Behauptungen aufstellen ist leicht – Behauptungen widerlegen ist viel schwieriger. Jedes Schulkind kann sich zehnmal schneller Theorien ausdenken, als sie die klügsten Leute der Welt widerlegen können. Nur weil man eine These formuliert, erwirbt man damit noch nicht das Recht, dass andere Leute sie überprüfen. Wer erwartet, wissenschaftlich ernst genommen zu werden, muss zumindest einen ersten «Ergibt das irgendwie Sinn?»-Check bestehen: Gibt es glaubwürdige Beobachtungen, die diese Behauptung stützen? Oder vielleicht einen bekannten Wirkmechanismus, der einen bestimmten Effekt wahrscheinlich erscheinen lässt?
Wenn eine These ohne Belege aufgestellt wird, dann darf sie als unglaubwürdig verworfen werden – auch wenn sie nicht sorgfältig wissenschaftlich untersucht wurde. Der US-amerikanische Autor Christopher Hitchens formulierte es so: «Was ohne Nachweis behauptet werden kann, kann auch ohne Nachweis verworfen werden.»
Im Zweifelsfall sollte man grosszügig sein: Mit ernsthaften Behauptungen, für die es zumindest einigermassen plausible Argumente gibt, sollte sich die Wissenschaft ernsthaft auseinandersetzen – auch wenn sie zunächst unrealistisch und unglaubwürdig wirken. Aber ein Mindestmass an Plausibilität muss doch gegeben sein, sonst diskutieren wir bloss über unsichtbare Elche. Und das ist Verschwendung wertvoller Zeit, die wir besser in die Lösung echter Probleme investieren sollten.
In das Putzen des Bads zum Beispiel.