"Corona" in den Pflegeheimen und Altenheimen - wen wundert das?

Mich verwundert das nicht, nicht mehr, seit ich vor zwei oder drei Wochen, bevor der zweite Lockdown begann, einen alten Bekannten und ehemaligen Nachbarn besucht habe. Der Mann ist 86 Jahre alt. Ich kannte und kenne ihn gut, habe ihm früher oft im Garten bei der Pflanzenarbeit geholfen (was sehr schön und lehrreich war). Ich zog dann aber ans andere Ende der Stadt und besuche ihn jetzt nur noch sporadisch.

Was soll ich schreiben? Ich bin wieder um eine Erfahrung reicher geworden.

Als ich auf das Gartentor zuschritt und den Türsummer betätigte, zog ich meine Maske, die lässig über der Stirn hing, wie ein Bankräuber vor das Gesicht. Kein infektiöses Partikelchen sollte meiner Atmung entweichen!

Zeitgleich betrat eine jüngere Frau mit mir das Grundstück - maskenlos. Erst später im Haus setzte sie die Maske auf, nachdem ich meine Maske kein einziges Mal abgenommen hatte. Man weiß ja nie. Vielleicht bin ich positiv und stecke den alten Mann an? Oder der alte Mann steckt mich an?

Die junge Frau war Mitarbeiterin von der Caritas, Kurdin, und sprach gut Deutsch. Sie wartete auf eine Kollegin, die bald nach ihr eintreffen sollte. Heute war "Sozialnachmittag". Man wollte den alten Mann unterhalten. Nun gut. Das restliche Haus ist vollbesetzt mit der Familie, Kinder, Enkelkinder, aber wenn die Familie meint, die Caritas müsste dem Vater und Opa das Leben verschönern? Wenn man dem alten Mann eingeredet hat, es wäre besser für ihn? Vielleicht können die Mädels von der Caritas dem Opa besser Spass und Freude bereiten als die Familie? Ich kann mich als Fremde nicht einmischen, aber das Szenario kam mir unwirklich vor, wenn ich kurz die Augen schloß und hinter der Maske tief Luft holte. Ein paar Meter weiter saß die Familie im selben Haus (das Haus hat drei Eingänge), zelebrierte ihr glückliches Leben, als wäre die Räumlichkeit des Alten eine abgetrennte Welt, nicht existent für sie. Bizarr! Nicht einmal beim Fenster sah man hinaus, als der alte Mann Besuch bekam, obwohl man den Türsummer im ganzen Haus hört.

Dann kam die Kollegin, ich nenne sie Maria, sie heißt anders, ich kenne sie, vor allem erkannte sie sofort mich, trotz Maske. Ertappt!

Maria, sie kommt aus dem europäischen Osten, schwafelte und schwafelte, als gäbe es kein Morgen. Das alles ohne Maske und am selben Tisch mit meinem alten Bekannten. Dieser nickte nur immer zustimmend mit dem Kopf, wenn er uns drei Frauen abwechselnd anschaute und reden hörte. Ich glaube, es war ein besonderer Tag für ihn. Der alte Charmeur sitzt ihm noch immer in den Knochen, obwohl er nicht mehr genau weiß, wann er geboren ist und wie er heißt. (Ich kenne sein Geburtsdatum besser als er.)

Nach zwei Stunden Martyrium unter meiner dicken Baumwollmaske verließ ich das Haus des Bekannten, die Mädels von der Caritas blieben länger. Sie machten Kaffee für den alten Mann und als ich ging, fingen sie gerade mit der Zubereitung des Abendessen an.

Ich war so benebelt, als ich zum Auto ging, dass ich vergaß, bei der Restfamilie zu klingeln und "Guten Tag" zu sagen. Die Wohnräumlichkeiten des alten Mannes waren total ungelüftet, nirgends kam ein Hauch Frischluft herein und die Maske vor meiner Nase tat ihr übriges. Ich japste draußen nach Luft. (Als ich zu Hause war, atmete ich dankbar die Luft des Wienerwaldes ein.)

Drei Tage lang ging mir das Szenario im Haus meines alten Bekannten nicht aus dem Kopf.

Wir schieben quasi die alten Leute ab, unsere eigenen Verwandten, geben sie in die Obhut von Fremden und dann wundern wir uns, wenn die Alten krank werden?

Ich wundere mich nicht. Corona, so scheint es, legt den Finger beharrlich in die Wunden unserer Gesellschaft.

1
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
6 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

decordoba1

decordoba1 bewertete diesen Eintrag 25.11.2020 08:26:34

4 Kommentare

Mehr von Iris123