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„Die Menschen sind so einfältig und hängen so sehr von dem Drucke des Augenblicks ab, daß derjenige, der sie hintergehen will, allemal Jemand findet, der sich betrügen läßt. Ein einziges neues Beispiel will ich anführen. Papst Alexander der Sechste that gar nichts Anderes als betrügen, dachte an nichts Anderes und fand immer Leute, die sich anführen ließen. Niemals hat Jemand eine größere Fertigkeit gehabt, zu versichern und mit großen Schwüren zu betheuern, und weniger zu halten. Dennoch gelangen ihm seine Anschläge, Hinterlisten nach Wunsch, weil er die Welt von dieser Seite gut kannte. Ein Fürst muß also nicht die vorhin beschriebenen Tugenden haben, wol aber das Ansehn davon. Ich wage es zu behaupten, daß es sehr nachtheilig ist, stets redlich zu sein: aber fromm, treu, menschlich, gottesfürchtig, redlich zu scheinen ist sehr nützlich. Man muß sein Gemüth so bilden, daß man, wenn es nothwendig ist, auch das Gegentheil davon vorbringen könne.“
Niccolo Macchiavelli, Il Principe, Kap. 18
„Wir sind enttäuscht und sehn betroffen den Vorhang zu - und alle Fragen offen.“ So Brecht in seinem guten Menschen von Sezuan. Mit den Ibiza-Leaks hat sich gerade mal ein Vorhang nach dem 1. Akt eines Schauspiels geschlossen, von dem wir das Ende nicht kennen. Von dem wir aber vermuten dürfen, dass ebenfalls wesentliche Fragen offen bleiben.
Oder glaubt wirklich jemand, dass ein angesehener Wiener Rechtsanwalt, offenbar auch so etwas wie der Hausanwalt der Familie Gudenus, aus Motiven „der gesellschaftlichen Veränderung“ seinem Klienten, der gerade erst einen Immobiliendeal mit ihm abgewickelt hat, sozusagen ans Messer des Bad Campaigning liefert? So die Fama aus diversen Medien, und angeblich hat er das ja auch selbst eingestanden.
Wie auch der Münchner/Wiener Privatermittler, der das Ding nach geglückter anwaltlicher Vermittlung gedreht haben soll. Auch der auch dazu geständig. Alles geklärt, oder? Und so schnell.
Der Vorhang fällt … und viele Fragen bleiben offen.
Wie auch nach der sogenannten Silverstein-Affäre, die 2017 vor der Nationalratswahl platzte. Die SPÖ hatte, über Vermittlung durch Alfred Gusenbauer, den israelischen PR-Berater Tal Silberstein engagiert, offiziell für die Durchführung und Auswertung von Umfragen zur NR-Wahl 2017. Vorgeworfen wird dem österreichischen Team rund um Silberstein, es hätte übles Dirty Campaigning gegen Sebastian Kurz betrieben, vorzugsweise über Facebook-Seiten mit getarnter Urheberschaft. Dort seien Kurz Aussagen in den Mund gelegt worden, die ihn angeblich ins rechte Lager rücken sollten – zugleich hätte man den Anschein erweckt, die Seiten wären von der FPÖ lanciert worden.
Beispiel: Am 19. Juli wurde auf der scheinbaren Facebook-Fan-Seite Wir für Sebastian Kurz eine Umfrage online gestellt: „Zigtausende Migranten warten in Italien darauf nach Mitteleuropa weiter zu kommen, NGOs drohen die Menschen nach Österreich zu bringen. Soll Österreich sich das gefallen lassen?“ zitiert aus Wikipedia, Stichwort „Silberstein-Affäre“.
Aus heutiger Sicht und in Kenntnis zahlreicher Zitate von Kurz als Bundeskanzler klingt das eher nicht nach einer Textstelle, die ihm schaden könnte. Und bereits damals gab es rund um die inkriminierten Facebook-Seiten zahlreiche Unklarheiten und wechselseitige Beschuldigungen, und wie heute der „Spiegel“ und die „Süddeutsche Zeitung“ beriefen sich „Die Presse“ und das „Profil“ im Jahr 2017 auf den Quellenschutz, wenn es darum ging, wer die Infos über Interna aus der SPÖ-Wahlkampfzentrale an die Medien geleakt hatte.
Das Engagement Silbersteins durch die SPÖ hat jedenfalls einen großen Gewinner gehabt, den späteren Bundeskanzler Sebastian Kurz. Und im Silberstein-Team von damals arbeitete an federführender Stelle Peter Puller mit, der bereits 2005 im Gespräch gewesen war, für die steirische ÖVP Dirty Campaigning betrieben zu haben (was hier keinesfalls konkrete Zusammenhänge unterstellen soll). Und bereits 2017 wurde diskutiert, wem die „Silberstein-Affäre“ eigentlich wirklich nütze.
Wie auch der eigentliche Nutzen der aktuellen Ibiza-Affäre – sofern ein solcher Nutzen überhaupt planbar ist – hinterfragt werden darf.
Blenden wir zurück. Als im Jahr 2017 einige Eierköpfe über mögliche Bad Campaigning Ideen nachdachten und Szenarien entwarfen, waren vor allem komplizierte Verwirrspiele Thema. Man fühlt sich an die Gaunerkomödie „Die Entführer lassen grüßen“ von Claude Lelouche erinnert, in der einer der Protagonisten als Linker auf Linke schießt, um die Tat der radikalen Linken in die Schuhe schieben zu können.
Als pure Verschwörungstheorie, als Faction im Sinne amerikanischer Thriller fantasiert, das sei ausdrücklich betont: Wie wenn jemand damals schon verschiedenstes Material gesammelt hätte, um es im geeigneten Falle zielorientiert einsetzen zu können? Wenn etwa die Rechte, nennen wir sie einmal so, nicht nur die Linke abhängen, sondern auch die ebenfalls zu stark werdende extreme Rechte, nennen wir sie einmal so, im Zaum halten wollte?
Das braucht keinen Geheimdienst. Ich erinnere mich an einen mir bekannten Psychologen, der kurz nach seinem Studium bei einem amerikanischen Headhunting-Unternehmen in Deutschland gearbeitet hatte und mit dem Entdecken und Abwerben von Führungskräften in der Industrie befasst war. In dem Bereich wurde – und wird wohl – mit allen Mitteln gearbeitet, und das „cherchez la femme“ ist dabei bewährte Praktik, vor allem, wenn es nicht die eigene femme oder gar ein garcon ist und das intime Geschehen gut dokumentiert im Safe liegt. Für solche Dokumentation gab und gibt es Personal und Equipment am Markt, da muss man keinen Geheimdienst bemühen. Und auch weibliche Agents Provocateurs dürften die Szene beleben, gerade dort vor allem, wo private Ermittler sich um Treue und Untreue in privaten und geschäftlichen Beziehungen bemühen. Lassen wir einmal die verspieltere Variante beiseite, man hätte in einer Art Doppelspiel eine echte Oligarchen-Nichte angelockt und … aber das wäre dann schon zu romanhaft.
Die Falle aufzustellen und zu inszenieren war dann kein großes Problem mehr, vor allem, wenn sich so bereitwillig agierende Mitspieler einstellten. Die Akteure auf dieser Ebene zu ermitteln ist ja – zumindest als Legende – gelungen. Vorhang zu? Nein, hoch damit für den nächsten Akt. Es ist noch vieles offen.
Eine Frage ist, warum das tolle Material nicht gleich 2017 verwendet wurde. Nun, man hatte – wenn ich im Rahmen meiner rein erfundenen, keinen Realitätsgehalt anstrebenden Verschwörungstheorie bleibe, es wäre um verdeckte Aktivitäten gegangen, Kurz langen Erfolg zu sichern – also man hatte diesfalls zwei Asse im Talon, und es gab keinen Grund, gleich beide auszuspielen. Kern war der gefährlichere Gegner, unter ihm drohte die seit Gusenbauer bröckelnde SPÖ wieder Fuß zu fassen, ihm musste die erste volle Breitseite gelten. Und die Schuld, dass das so eindrucksvoll gelang, muss man ihm zu großen Teilen zugestehen. Strache hingegen war der ins Auge gefasste Steigbügelhalter für die Kanzlerschaft.
Nun, 2019, standen wieder Wahlen ins Haus, die Wahlen zum Europarat 2019. Und es konnte gut sein, dass mit dem Rückenwind des internationalen Zugs nach rechts die FPÖ ein Wahlergebnis erzielen würde, das den Abstand zur ÖVP womöglich geringer werden ließe … so etwas wie Majestätsbeleidigung sozusagen. Zumal die zahlreichen Auffälligkeiten des oft tausendjährig erscheinenden Juniorpartners in der Regierung am internationalen Glanz des Kanzlers kratzten. Und wenn es da noch etwas Material gab in der Schublade … noch später hätte man es wohl vergessen können. Jetzt passte es. Jetzt konnte es einschlagen. Jetzt konnte es – um den Preis einer internationalen Blamage, die nur einen traf – den Weg ebnen zu Neuwahlen. Ein späterer Wahltermin hätte angesichts der absehbaren Krisen und Abnutzungserscheinungen, auch durch einen unbeherrschbaren Regierungspartner, einen weiteren Popularitätsanstieg zweifelhaft erscheinen lassen. Jetzt hingegen wäre die Papierform optimal. Es ginge wohl in Richtung Absoluter… jedenfalls weit über 40 %, was angenehmere Koalitionsoptionen erahnen ließe.
Aber lassen wir die Verschwörungsfantasien. Halten wir uns an die Hoffnung, dass aufgedeckt würde. Oder sind wir mit dem Anwalt, dem Detektiv und der Unbekannten mit den fragwürdigen Fußnägeln schon zufrieden? Dann fiele mir nur noch Erich Kästner ein: „Was immer geschieht: Nie dürft ihr so tief sinken, von dem Kakao, durch den man euch zieht, auch noch zu trinken.“
Im Nachspiel der Silberstein-Affäre von 2017 gab es eine Reihe von rechtlichen Schritten, Klagen und Gegenklagen. Wikipedia, vielleicht abschließend: „Im Jänner 2018 bot die ÖVP ,ewiges Ruhen‘ der zivilrechtlichen Verfahren an, was die SPÖ vorerst prüfen wolle.“ Noch Fragen offen?