Vom gekonnten Spiel mit der Lüge
Das Schema ist bekannt. Ein Dieb klaut, sagen wir: auf einem Marktplatz, wird ertappt, flieht … und lenkt die Verfolger ab, indem er auf irgendwen zeigt und laut ruft: „Haltet den Dieb!“ Der Beschuldigte muss sich verteidigen, es ist ungleich schwerer, Unschuld glaubhaft zu machen als Schuld zu beweisen, und inzwischen sucht der Dieb das Weite und erfreut sich seiner Beute.
Wir begegnen diesem Manipulationsschema auf Schritt und Tritt. Eric Berne hat es als eines der von ihm beschriebenen „Spiele der Erwachsenen“ untersucht. Es ist nicht neu. Es ist vermutlich im Gebrauch, seit es Menschen gibt.
Wenn ich die Lüge als gezielt eingesetztes Kommunikationsmittel verwenden möchte, bin ich gut beraten, jene, die mich entlarven könnten, von vornherein und auf Vorrat als Lügner zu beschuldigen. Aktuell kennen wir das als „Lügenpresse“.
Besonders gut funktioniert diese Taktik, wenn die Beschuldigung ein Körnchen Wahrheit enthält oder jemals enthalten hat. Der geeichte Lügner weiß, dass das Sprichwort „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht!“ optimal eingesetzt wird, um die eigene Verlogenheit zu tarnen. Bring deinen Gegner in die Verlegenheit, sich für etwas Bestreitbares verteidigen zu müssen, und du hast schon gewonnen.
Erfahrene Lügner verharren konsequent in der Angriffsposition und schleudern denen, die den Schwindel aufdecken wollen, ihre geballte moralische Entrüstung ins Gesicht: „Wollen sie mich etwa als Lügner bezeichnen?“ Das tut kein anständiger Mensch gern … obwohl bisweilen ein schlichtes „Ja!“ die angemessene Antwort wäre. Wie schwach klingt hingegen ein seriöses „Es geht doch nur um die Klärung eines Sachverhalts!“ … vor allem dann, wenn die Lüge nicht hieb- und stichfest im Augenblick nachgewiesen kann. Einen Tag später, und die Chance ist verpasst. Wir kennen das vom Tempelberg.
Seit Jahrzehnten beliebtes „Haltet den Dieb!“-Spiel ist das EU-Bashing. Für so ziemlich alles wird sowohl von PolitikerInnen wie auch von BürgerInnen inzwischen die EU verantwortlich gemacht und beschimpft. Das funktioniert auch hervorragend, weil es weiß Gott genug viel an dieser EU zu kritisieren und zu reformieren gibt. Und weil es zur täglichen Kleingeldwechslerei der Politik gehört, es auf die eigenen Fahnen zu schreiben, wenn etwas populär ist, und es nach Brüssel auszulagern, wenn es verbockt wurde: „Haltet den Dieb!“ Zumal es die EU konsequent vernachlässigt, um Sympathie und Verständnis (die klassische PR-Definition) durch gute Öffentlichkeitsarbeit zu werben. Je unbekannter das Projekt EU mit seinen Stärken und Schwächen bleibt, desto leichter wird es Demagogen gemacht, ihr „Haltet den Dieb!“-Spiel damit zu treiben.
Wann immer jemand etwas sagt, sagt er damit auch etwas über sich selbst aus. Darum bewährt es sich, eine kritische Realitätsprüfung vorzunehmen, wenn jemand besonders laut „Haltet den Dieb!“ schreit. Der Ankläger könnte selber der Dieb sein.
Jürgen Jotzo/pixelio.de http://www.pixelio.de/media/620700