„Statt gebannt auf die mediale Online-Welt zu starren wäre der Blick wieder auf die Wirklichkeit zu richten.“ So Anneliese Rohrer in ihrem hier gebloggten Appell „Die gute Stunde des Journalisten!“
Gebanntes Starren entspricht dem Kaninchen, das im nächsten Augenblick von der Schlange gefressen wird. Ich schaue ebenso gebannt auf die Hunderttausende, die jeden Morgen in Wien ihrerseits gebannt in die Gratispostillen starren, die ihnen auf dem Weg zur Arbeit die Welt erklären.
Freilich wäre der von Frau Rohrer geforderte Blick auf die Wirklichkeit ein Kriterium, das dabei hilft, guten Journalismus von Lohnschreibe zu unterscheiden. Dabei denke ich im Handumdrehen an Berger/Luckman und ihren Klassiker "Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit", der 1966, lange vor dem Hochschwappen der Online-Medien, geschrieben wurde.
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Ich kenne den österreichischen Journalismus aus der Innenperspektive annähernd gleich lang wie Frau Rohrer ... und bemühe mich zu erinnern, wann bzw. ob es den gepriesenen Qualitätsjournalismus denn schon einmal gegeben hat. Es will mir nicht einfallen ... es gab freilich immer wieder einzelne Highlights journalistischer Arbeit, es gab Erfolgserlebnisse für die "Vierte Gewalt" - etwa das Rundfunk-Volksbegehren in den 1960ern, das mit dem Proporz-Rundfunk aufräumte (naja, langfristig betrachtet: mehr oder weniger...) oder ein paar Erfolge des investigativen Journalismus, die mit Namen wie Bronner, Lingens oder Worm verbunden sind … und es gab durch all die Jahre hindurch immer wieder den Ruf nach Qualitätsjournalismus.
Die österreichische Tradition im Umgang mit demokratischen Medien ist vergleichsweise jung – zu den frühen Entwicklungsjahren hat Karl Kraus seine Anmerkungen formuliert, dann kam der „Völkische Beobachter“, und in den ersten Nachkriegsjahren mussten die Medien ihre Rollen neu definieren. Das spielte in einer Zeit, in der die Gesellschaft noch andere Wirklichkeiten konstruierte. Es gab ziemlich klare Lager und Gefolgschaften, und die mediale Landschaft entsprach folgerichtig diesen Lagern. Und auch bei denen, die ihre Blattlinie im Impressum als unabhängig auswiesen, lohnte sich der Blick auf die Besitzverhältnisse. Es war immer schon ein Ritt über den Bodensee für Journalisten, wenn sie als kritische Reporter der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit reüssieren wollten. Und es waren und sind wenige, die diesen Schritt wagten.
Exkurs Besitzverhältnisse: Es ging seit jeher um Macht, auch und gerade bei Medien in demokratisch legitimierten Gesellschaften. Medien spielen an vorderster Front bei Mehrheitsbildungen mit, wobei die „Vierte Gewalt im Staat“ am allerwenigsten demokratisch legitimiert ist. Redaktions-Statute, die dem einzelnen Journalisten sozusagen verbriefte Unabhängigkeit gegenüber diversen Einflussnahmen garantierten, waren ein kurzlebiges Kind des demokratischen Aufbrechens der Nachkriegsgesellschaft. Wir erinnern uns auch an Franz Ferdinand Glück alias Franz Olah, der mit Gewerkschaftsgeldern die Kronenzeitung unter Dichand/Falk unterstützte, um ein (damals) SPÖ-freundliches, "unabhängiges" Medium zu lancieren.
Medien waren Wirtschaftsunternehmen geworden - und zwar in erster Linie Wirtschaftsunternehmen. Es ging - wenn man das überhaupt auseinanderhalten darf - zunehmend weniger um politische und zunehmend mehr um Marktmacht. Die Quote, die Reichweite wurden die neuen Qualitätsmaßstäbe für die Medieninhaber. Und zwar nicht primär, um möglichst viele Exemplare zu verkaufen, sondern um über die Instrumente der Reichweitenforschung die Inseratenpreise so zu gestalten, dass man Medien auch herschenken konnte ... die oben erwähnten Gratisblätter, die Verkehrsmittel und Briefkästen fluten, im elektronischen Bereich die werbefinanzierten Privatsender, die ohne staatlich garantierte Gebührenbasis leben. Und auch der BürgerInnenjournalismus von heute wäre ohne Refinanzierung durch Werbung undenkbar.
Mit der Mutation von Medien zu Goldeseln für ihre Inhaber war es unvermeidlich, dass journalistische Qualität noch deutlicher als vorher unter Druck geriet. Freilich, verschwunden ist der hohe Anspruch nie ... es gibt durchaus noch die Qualitätsnischen, in denen RedakteurInnen recherchieren, bevor sie berichten und/oder kommentieren. Es gibt die Medien-RezipientInnen, die das schätzen und bezahlen. Und es geht auch den Besseren unter diesen Qualitätsmedien wirtschaftlich noch einigermaßen gut, wenn sie ihren Job gut machen, so wie sich auch ein kleiner Gewerbetreibender, der eine Marktnische gekonnt bedient, gegenüber den großen Ketten noch halbwegs behaupten kann. Und man darf deren Rolle im Einfluss auf Meinungs- und Mehrheitsbildung nicht unterschätzen, wiewohl sich auch die Rolle der "Meinungsbildner" in der Geisteslandschaft zügig verändert.
Die Rahmenbedingungen der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit sind derzeit in einem Wandel begriffen, der durchaus hinsichtlich seiner Bedeutung mit der industriellen Revolution auf eine Stufe gestellt werden kann. Die Digitalisierung stellt mehr auf den Kopf als nur Produktionsverfahren, und wenn Medienunternehmen heute noch "gebannt auf online" starren, sind sie eh schon weg vom Fenster. Einige wenige haben das Klavier schon spielen gelernt, Beispiel STANDARD, dessen Online-Erfolge dazu beigetragen haben, das Unternehmen aus ausländischen Beteiligungen herauszukaufen.
Wo früher der Leserbrief ein wenig Echo der medialen Rezeption von Wirklichkeit vermittelte, tritt heute der BürgerInnen-Journalismus in unmittelbare Konkurrenz zu professionellen RedakteurInnen. Sozusagen die „Fünfte Kolonne“ der veröffentlichten Meinung nach der „Vierten Gewalt“ im Staat. Viele Grenzen verschwimmen, nicht nur die staatlichen. Es galt lange Zeit als Grundgesetz des guten Journalismus, Information und Kommentar auseinanderzuhalten (ohnedies selten wirklich konsequent durchgehalten und kommunikationstheoretisch auch kaum realisierbar). Im BürgerInnen-Journalismus gilt die Priorität der Meinung, und oft genug ohne Bezugnahme auf solide Information. Professionelle Medien spielen noch eine gewisse Rolle, um die Versatzstücke beizusteuern, aus denen sich Meinung rekrutiert ... als "vierte Gewalt" haben sie, so traue ich mich zu urteilen, weitestgehend ausgedient.
Parallel zum BürgerInnen-Journalismus, in der gesellschaftlichen Rezeption immer noch eine Nische, spielt das Schlagwort der „social media“ eine immer größere Rolle. Politik und Meinung, zwischen Katzenbildern und Geburtstagsgrüßen, wird selbst zum inszenierten medialen Event, geliket, geforwarded … das Neusprech allein zeigt schon, dass damit eine geänderte Form der Rezeption von Wirklichkeit(en) Hand in Hand geht. Sind schon die Wechselwirkungen zwischen wirtschaftlicher Basis und publizistischem Ethos bei den traditionellen Medien undurchsichtig genug, so ist bei Facebook, Twitter, Instagram & Co. völlig undurchschaubar, wie das verfasst ist, welchen realen Regularien das unterliegt, welchen Auflagen und welchen Kontrollen. Was im Übrigen für die gesamte digitale Welt gilt, die sich von der technischen Basis der Hardware bis zu den Verästelungen der Software praktisch abseits gesellschaftlicher Kontrolle vollzieht.
Einer, der in Österreich diesen Wandel unbestreitbar früh erkannt hat, war Jörg Haider. Während SPÖ und ÖVP noch auf ihre institutionalisierte Macht vertrauten, auf Meinungsbildung Einfluss zu nehmen, inszenierte Haider Politik konsequent als Medienevent. Zu seiner Zeit noch unter geschickter Nutzung der elektronischen Medien und mit großem Gespür für den Wandel in der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeiten. Auf einmal war nicht der kleine Haider der Gegner der damals noch großen Parteien, auf einmal war da der „fleißige kleine Mann“, der sich von den etablierten GestalterInnen von Politik verraten und verkauft fühlte. Die Medien spürten, dass mit dem Zorn dieser kleinen Männer – der eine in der Politik und die vielen auf der Straße – Reichweite und Quote zu machen waren, und das diente direkt den Werbeeinnahmen der Medien: Auch wenn die FPÖ damals noch nicht zu den Großinserenten zählte, berichtete man gern über jeden Haiderschen Aufreger, weil der im Gegenzug die anderen Parteien veranlasste, vermehrt in Inserate und Druckkostenbeiträge (eine spezielle Form des verluderten Journalismus) zu investieren. Der kleine Mann rieb sich vergnügt die Hände. Dass er trotzdem alle Kassen sprengte, steht auf einem anderen Blatt.
Seine Nachfolger – und einige haben unter Haider gelernt – schafften es rechtzeitig, den unbezahlbaren und dennoch kostengünstigen Vorsprung in den Social Media zu gestalten und dort in der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeiten eine Gegenwirklichkeit zu etablieren, die als veröffentlichte Meinung weitestgehend nicht nur ohne JournalistInnen auskommt, sondern im Gegenzug auch die etablierte Medienlandschaft unter Generalverdacht stellt: Lügenpresse. Die blaue Social-Media-Strategie ist ebenso skrupellos wie genial: Bevor man sich dem Gegner überhaupt auf politischer Ebene stellt, hat man dessen Kommunikationswege schon ausgeschaltet. Wo könnte sich heute noch Qualitätsjournalismus entwickeln als ausgerechnet im Bereich der „Lügenpresse“?
Die Bedeutung von Online-Kanälen für die Meinungs- und Mehrheitsbildung wird weiterhin zunehmen, und zwar rasant. Herkömmliche Medien werden in diesen Prozessen des Konstruierens von Wirklichkeiten weiterhin ihre Rolle haben, zunehmend eine Nischenrolle vermutlich, wobei für mich nicht absehbar ist, welchen Attraktoren die Konzentration von technischer und finanzieller Macht hier und die selbstreferenzielle, nonlineare (also chaotische) Entwicklung immaterieller Kommunikations-Strukturen da folgen werden. Ich hoffe auf gute, auf sehr gute JournalistInnen, in den Redaktionen von Medien und in den Arbeitszimmern von BürgerInnen, die diese Prozesse aufmerksam begleiten und mitgestalten. Vielleicht sind game changer dabei, Woodwards und Bernsteins unserer Tage. Wobei die auch nur aufgedeckt, einen Präsidenten zu Fall gebracht, aber im Großen und Ganzen nichts verändert haben.
Aus den Beiträgen, die ZEIT ONLINE zu diesem Themenfeld leistet, hier zwei relativ aktuelle Links:
http://www.zeit.de/karriere/beruf/2016-01/journalismus-zukunft-digitalisierung-rolle-journalisten
http://www.zeit.de/gesellschaft/2016-07/online-journalismus-medien-amoklauf-muenchen
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