Mit seiner Wut ist der Bauer nicht allein
Die Reaktionen vieler Politiker und Medien auf die Bauerndemonstrationen zeigen ein auffälliges Bemühen, diese Proteste als etwas darzustellen, das sie nicht sind: das isolierte Aufbegehren einer Lobbygruppe, die moralisch und ethisch eher uneinsichtig auf überkommenen Privilegien beharrt und die Zeichen der Zeit nicht so recht erkannt hat. Doch diese Lesart ist gleich mehrfach falsch. Zunächst haben die Bauern nichts gegen Vorgaben zum Insekten- oder Umweltschutz, sondern weisen auf häufig unsinnige oder sogar kontraproduktive Vorschriften hin, die ihnen nicht nur das Leben sondern auch den Umweltschutz schwer machen. Zum anderen haben sie keine Lust mehr, im Windschatten von Klimahysterie und Öko-Ideologe den Sündenbock abzugeben.
Und dies ist kein Phänomen, das auf die Bauern beschränkt ist. Auf der parteiübergreifend grünen Agenda ballen sich gerade drei politische Wendevisionen zu einem Vollrausch, der für die Betroffenen sehr nüchtern enden wird: Energiewende, Verkehrswende und Agrarwende. Alle drei sind ideologisch kontaminiert und gehen an der Praxis und den Bedürfnissen der Menschen und ihren Arbeitsplätzen mit erstaunlicher Nonchalance vorbei. Bei der Energiewende hat man es allerdings mit nicht organisierten kleinen Leuten zu tun, die hilflos zuschauen wie die Strompreise explodieren und sich längst zu einer zweiten Miete entwickelt haben. Bei der Verkehrswende trifft man auf ein politisch feiges Management in der Autoindustrie, das glaubt, sich grün verkleiden zu müssen, um ordentlich staatliche Subventionen abzugreifen. Widerstand gegen eine ökologisch unsinnige und ökonomisch verheerende Zwangs-Elektromobilität ist derzeit nicht zu erwarten. Der Bauernstand ist da von anderem Kaliber: traditionell gut organisiert und sich seiner politischen Macht bewusst – und von einem geradezu französisch anmutenden Widerspruchsgeist gegenüber der Obrigkeit.
Die Grünen Kreuze auf den Feldern sind insofern die deutschen Pendants der Gelben Westen. Die Bauerndemonstrationen genießen abseits der veganen Biotope in den Großstädten viel Sympathie und sind letztendlich nur die Spitze eines Eisbergs, nämlich jener gewaltigen Unzufriedenheit der im produktiven Teil der Wirtschaft arbeitenden Bevölkerung, die nicht an das Ende der Welt, sondern an das Ende des Monats denken muss. Man hat keine Lust mehr, sich von den Greta-Jüngern und ihren Stichwortgebern in Politik und Medien auf der Nase herumhüpfen und ins moralische Abseits schieben zu lassen. Und es gibt weitere Parallelen zu den Gelben Westen.
Neben dem Deutschen Bauernverband artikuliert eine neue Gruppierung namens „Land schafft Verbindung“ ihren Protest. Eine Bäuerin in Norddeutschland hatte im Oktober eine Facebook-Gruppe gegründet und damit offensichtlich einen Nerv getroffen. Immer mehr unzufriedene Bauern haben sich seitdem in sozialen Netzwerken unter dem Slogan „Land schafft Verbindung“ zusammengefunden. Über 21.000 Mitglieder hat die Facebook-Gruppe mittlerweile. Die Demonstranten kommen aus allen Regionen Deutschlands und aus allen Agrarzweigen. „Bemerkenswert ist, dass sich auffallend viele junge Bauern und Bäuerinnen beteiligen“, heißt es. Und denen kann man weder mit einem idealisierten Bild von Omas Bauernhof kommen noch mit Totschlagworten wie „Massentierhaltung“ und „Agrarfabriken“. Die Herausforderungen für die Landwirte lassen sich relativ einfach benennen:
Auf der vorhandenen Fläche müssen immer mehr Nahrungsmittel erzeugt werden, dies ist mit dem heutigen Biolandbau nicht zu realisieren.
Die wachsende Weltbevölkerung lässt sich nur mit einer effizienten Landwirtschaft im industriellen Maßstab ernähren.
Technologie und Wissenschaft werden zur Grundlage für eine ökologische und ethisch runderneuerte Produktionsweise.
In den Industrieländern wird der traditionelle Kleinbetrieb mehr und mehr durch arbeitsteilige Großbetriebe ersetzt.
Standen 1950 auf der Welt noch 5.000 Quadratmeter pro Kopf für die Nahrungsmittelproduktion zur Verfügung, so wird es Schätzungen zufolge 2050 für jeden Menschen nur noch eine Fläche von 1.750 Quadratmeter sein. Und das bei steigenden Ansprüchen und verstärkter Nachfrage nach eiweißhaltigen Lebensmitteln. Und oben drauf kommt noch der Anbau von Energiepflanzen als Erdölersatz.
Eine Stadt wie Berlin verschlingt am Tag tausende von Tonnen Obst, Brot, Gemüse, Milch, Eier oder Fleisch. Diese Großversorgung erfordert eine Produktion und eine Logistik im industriellen Maßstab. In den sich entwickelnden Ländern ist diese Herausforderung noch viel größer. Dort zeichnet sich im Zeitraffer eine ähnliche Entwicklung ab, wie sie zuvor Europa und Nordamerika durchlaufen haben. Immer mehr Menschen konzentrieren sich in den Megastädten, und ihr Hunger nach hochwertigen Lebensmitteln wächst mit dem Einkommen, besonders übrigens der auf Fleisch. Eine über 6,3 Milliarden hinauswachsende und wohlhabender werdende Menschheit wird ohne technologische Durchbrüche nicht umweltverträglich produzieren und konsumieren können. Der bei manchen europäischen Konsumenten verbreitete Gedanke, das Heil der Landwirtschaft liege in einem Zurück zu vorindustriellen Produktionsmethoden, entpuppt sich dann als romantisches Wunschdenken. Und die dazugehörigen Fakten und Zwänge sind nun wirklich nichts Neues.
Am 20. September 2010 erhielt der damaligen Bundespräsident Christian Wulff in der Friedrichstadtkirche im Französischen Dom zu Berlin die Erntekrone der deutschen Landwirtschaft. Ich wurde damals vom Deutschen Bauernverband gebeten, zu dieser traditionellen Erntedank-Veranstaltung eine kleine Rede zu halten. Sie hätte recht gut zu den gestrigen Demonstrationen vor dem Brandenburger Tor gepasst. Ich füge den Text deshalb hier noch einmal an:
Sehr geehrter Herr Bundespräsident, meine Damen und Herren,
die Kirche ist heute voll. Das ist schön. Aber, wie sie wissen, eher die Ausnahme. Die neuen Kathedralen des dynamischen und aufgeklärten Stadtbewohners sind eher die Fitness-Studios. In einer säkularisierten Welt bleibt das Bedürfnis nach Seelenheil und Sinnstiftung offenbar konstant. Und so suchen sich viele Menschen eine Ersatzreligion. Davon gibt es viele, das Angebot ist groß. Der Körper- und Gesundheitskult ist nur eine davon. Ich will das hier nicht werten und auch nicht abwerten. Es führt aber dazu, dass eine Gesellschaft plötzlich vollkommen andere Anforderungen an das tägliche Brot stellt.
An der Fitnesstheke bestellt sich der moderne Mensch einen Energydrink und ein Proteinpräparat. Und dann noch ein paar Vitaminpillen oben drauf. Ein Werbeslogan formuliert den Glaubenssatz dazu: „Für immer schlank“. Früher wurde ein Lebensmittel daran gemessen, was darin enthalten ist. Butter, Eier, Zucker oder Speck galten als wertvoll. Heute ist es genau umgekehrt. Ein Lebensmittel wird daran gemessen, was nicht drin ist. Es geht schon lange nicht mehr ums satt werden. Es geht um: Gesundheit, Fitness, Schlankheit, ewige Jugend und Schönheit, Prestige, Distinktion und Unterscheidung von der Masse. Und es geht um Wertvorstellungen und Sinnstiftung. Lebensmittel sollen umwelfreundlich und klimafreundlich sein. Und sie sollen in jeder Weise moralisch und ethisch vorbildlich produziert werden.
Das ist völlig in Ordnung. Es ist aber ziemlich viel auf einmal verlangt. Ein Landwirt hat es heute nicht leicht. Insbesondere deshalb, weil beim anspruchsvollen Endverbraucher die Einsicht in einfache Zusammenhänge oft völlig verloren gegangen ist. Dafür möchte ich ein Beispiel anführen: Eine wachsende Zahl von Menschen lehnt den Verzehr von Tieren ab und möchte sich vegetarisch ernähren. Da ist nichts dagegen zu sagen. Die gleichen Menschen fordern aber oft, dass Lebensmittel nur noch im Biolandbau angebaut werden sollen. Nun brauchen sie im Biolandbau tierischen Dünger weil mineralischer Dünger nicht erlaubt ist. Sie brauchen sogar reichlich tierischen Dünger. Keine Nutztierhaltung mehr, heißt keinen tierischen Dünger mehr und damit keinen Biolandbau mehr.
Ich möchte diese Dinge nicht gegeneinander ausspielen, sondern als Beispiel für Zielkonflikte anführen, denen ein Landwirt heute ausgesetzt ist. Was auch immer der Bauer macht, es wird oft als falsch empfunden. Bleiben wir ganz kurz noch beim Dünger. Viele fordern aus Umweltgründen den gänzlichen Verzicht auf Mineraldünger. Ich möchte an dieser Stelle nicht darauf eingehen, ob zu recht oder unrecht. Aber eines ist klar: Ohne Kunstdünger würden die Landwirte der Welt wegen der geringeren Erträge nur etwa die Hälfte der Menschheit ernähren können. Und das ist ja nun moralisch und ethisch wirklich nicht erstrebenswert.
Wir neigen dazu, von unserer kleinen Insel der Glückseeligen die Welt zu betrachten. Und das nicht nur in Deutschland. Es sind die urbanen Eliten überall in den wohlhabenden Ländern, die den Diskurs über Lebensmittel beherrschen. Das sind meistens kluge Menschen, sie haben aber in der Regel ein völlig romantisiertes Bild vom Leben auf dem Lande. Sie wissen nicht, dass das Leben auf Opas Bauernhof alles andere als angenehm war. Ich bin in der Eifel aufgewachsen und habe mit Söhnen und Töchtern von Bauern die Schulbank gedrückt. Keiner von denen wollte den elterlichen Betrieb übernehmen, weil sie wussten, was das für ein harter Job ist. Sie sind lieber Polizist oder Lehrer geworden. Landromantik ist ein Gefühl von Städtern, die selbst niemals bereit wären, 35-Stunden Woche, Urlaub und Freizeitgestaltung gegen die harte Arbeit im Stall und auf dem Feld zu tauschen. Ich möchte hier und heute anlässlich von Erntedank deshalb mal denen danken, denen sonst nicht oder selten gedankt wird.
Zunächst einmal den jungen Menschen, die überhaupt bereit sind, einen landwirtschaftlichen Betrieb zu übernehmen. Die meistens Betriebe werden ja aufgegeben, weil sich kein Nachfolger findet. Ein Bauer muss schon ein Überzeugungstäter sein. Die Qualifikationen für diesen Beruf sind mittlerweile genauso groß wie in einem leitenden Job in einem Industriebetrieb, die Verantwortung ist meist größer. Dazu kommt gleichsam ununterbrochener Bereitschaftsdienst. Und dann muss man auch noch einen Lebenspartner finden, der bereit ist, das alles mitzumachen. Ich wünsche jungen Bauern deshalb, dass es Ihnen gelingt, ein modernes Wirtschafts-Unternehmen aufzubauen, wie das vielfach ja schon geschehen ist. Werden Sie erfolgreiche Unternehmer, das ist das Nachhaltigste, was sie tun können.
Die zweite Gruppe, der ich danken möchte, sind die vielen Techniker, Ingenieure, Wissenschaftler und Forscher, die mit immer neuen Methoden und Ideen helfen, die Erträge zu steigern. Die Erde steuert in diesem Jahrhundert auf zehn Milliarden Menschen zu. Mehr Ackerland haben wir nicht, sonst müssten wir die letzten Naturgebiete zerstören. Wer die Menschheit also auch in Zukunft ernähren will, muss auf der gleichen Fläche beinahe doppelt so viele Lebensmittel anbauen wie heute. Das ist eine ganz einfache Rechnung.
Und deshalb sollten wir zunächst einmal über alle Ideen und Lösungsansätze froh sein, egal ob bio, konventionell oder unkonventionell. Es wird nicht ohne Intensivierung gehen. Das ist aber bei uns ein böses Wort. Und diejenigen, die daran arbeiten, werden als Giftmischer oder Frankensteins bezichtigt. Auch das zeugt von großem Unwissen.
Die Natur ist keine freundliche, friedfertige Mutter. Sie hat Klauen und Zähne. Durch Ratten übertragene Krankheiten haben mehr Menschen dahin gerafft als Kriege und Revolutionen. Mutterkorn im Getreide hat ganze Landstriche entvölkert. Die biblischen Plagen sind ja nicht erledigt. Schädlinge vernichten heute noch große Teile der Ernte in vielen Regionen. Würden die Bauern wirklich auf Pestizide verzichten, müssten wegen der geringeren Erträge viele Millionen Menschen verhungern. Natürlich müssen wir mit solchen Mitteln verantwortungsbewusst umgehen. Aber eines ist klar: Die Risiken ihrer Anwendung sind sehr, sehr viel geringer als das Risiko ihrer Nicht-Anwendung. Diese beiden Dinge müssen immer gegeneinander abgewogen werden, wenn man zu einer rationalen Entscheidung kommen will.
Und nun möchte ich noch einer dritten Gruppe danken, die sie vielleicht überraschen wird. Ich möchte denjenigen Verbrauchern danken, die ab und zu Bohnen aus Kenia und Äpfel aus Südafrika kaufen. Es fehlt ja nicht an Appellen, Lebensmittel nur noch aus der Region zu beziehen. Das ist häufig auch vernünftig. Aber häufig ist es auch nicht richtig. Erstens kann die Energiebilanz durchaus für von weit her transportierte Ware sprechen, wenn sie unter klimatisch günstigeren Bedingungen oder mit effizienteren Methoden erzeugt wird.
Zweitens, und das ist ein noch viel wichtigeres Argument, sind landwirtschaftliche Produkte oft das einzige, was Entwicklungsländer exportieren können. Ich habe gerade mit einer Journalistengruppe eine Kooperative ehemaliger Wanderarbeiter in der Nähe des südafrikanischen Port Elizabeth besucht. Sie haben sich dort eine kleine Farm aufgebaut, die immerhin 200 bis 300 Personen Arbeit gibt. Und sie suchen händeringend nach Möglichkeiten, ihre Ware in Europa zu verkaufen. Es war beinahe rührend, wie sie uns um Kontakte baten, die ihnen mit ihrer Ware Zugang zu unseren Lebensmittel-Geschäften und Supermärkten verschaffen könnten.
Wollen wir denen jetzt sagen: „Geht leider aus ökologischen Gründen nicht. Wir wollen euer Zeugs nicht. Es kommt von zu weit her.“ Das hieße konkret, ihnen die Entwicklungsmöglichkeiten zu rauben. Kann das richtig sein? Und dies ausgerechnet von einem Land, das sich Export-Weltmeister nennt?
Zum Schluss möchte ich daher dem lieben Gott danken für die Fähigkeit, die er uns gegeben hat, um uns selbst zu helfen. Mehr angewandte Vernunft und weniger Ideologie und Dogmatismus wäre der schönste Ernte-Dank, dem man ihm erweisen könnte.
Anmerkung Anno 2019: Bundespräsident Christian Wulff war „not amused“ über diese Rede. Man müsse mit solchen „Provokationen“ vorsichtig sein.
Quelle: https://www.achgut.com/artikel/mit_seiner_wut_ist_der_bauer_nicht_allein