Eva Filipi, die Grande Dame der tschechischen Diplomatie, war jahrelang in Damaskus tätig. Hier spricht sie über Medienmanipulation, französische Arroganz und das Versagen der USA.
Dieses Interview erschien erstmals am 18. Juli 2024 – also vor dem Sturz des ehemaligen syrischen Staatspräsidenten Baschar al-Assad.
Prag
Lange war sie die einzige EU-Diplomatin, die während des Syrienkriegs in Damaskus stationiert war: Eva Filipi arbeitete von 2010 bis 2023 als Botschafterin der Tschechischen Republik in der syrischen Hauptstadt. Heute ist sie ernüchtert. Die westliche Politik gegenüber Baschar al-Assad sieht Filipi, die als Diplomatin auch lange im Libanon und in der Türkei tätig gewesen war, äusserst kritisch.
Weltwoche: Frau Filipi, zahlreiche europäische Länder zogen nach Beginn des Konflikts 2011 ihr diplomatisches Personal aus Syrien ab. Doch die tschechische Regierung behielt Sie in Damaskus. Warum?
Eva Filipi: Durch meine Arbeit als Botschafterin ist es mir gelungen, einige Leute aus dem Gefängnis zu holen und Visa zu erteilen. Was hätte es gebracht, wenn man mich abgezogen hätte?
«Assad ist nicht dumm. Er wird in dem Moment kaum einen chemischen Angriff lancieren.»
Weltwoche: Was haben Sie in Syrien gelernt?
Filipi: Für mich persönlich waren die Jahre dort unheimlich lehrreich. Der Aufenthalt hat mich gelehrt: Vertraue nur dem, was du mit deinen eigenen Augen siehst. Ich weiss, das klingt verrückt. Aber es ist leider so. Politik und Medien erfüllten in Syrien lediglich eine politische Agenda. Sie lautete: Assad muss gehen. Ich habe wenig Verständnis für die Politiker, die sich daran beteiligt haben. Ihre Handlungen haben zu viel Leid geführt. Viele schauen bis heute der Realität nicht in die Augen. Heute bin ich sehr kritisch.
Weltwoche: Medien zufolge hat das Assad-Regime mit den iranischen Revolutionsgarden und der russischen Armee seit 2011 rund 300.000 Zivilisten getötet.
Filipi: Die Verluste waren sicherlich gross. Ich glaube aber nicht, dass so viele Zivilisten umgekommen sind. Aus Sicht des syrischen Regimes ist die Lage alles andere als einfach. Lässt du den Islamisten am Leben, wenn er dir an die Gurgel geht? Natürlich landeten viele Regimegegner im Gefängnis. Ich sass zur Zeit der Tschechoslowakei einst auch einige Tage hinter Gittern. Ich nehme Assad nicht in Schutz. Ob er Menschen im Gefängnis töten liess, weiss ich nicht. Was ich aber sagen kann: Das Regime erschoss auf den Strassen von Damaskus keine Menschen. Zu Beginn des Konflikts fragte mich der US-Botschafter wiederholt, ob ich ihn an Demonstrationen begleiten wolle. Glauben Sie, dass der US-Botschafter zu einer Demonstration gehen würde, bei der die Gefahr einer Schiesserei besteht?
Weltwoche: Assads Regime ermordete im Jahr 2011 Demonstranten, heisst es. Das war doch der Grund, dass der Konflikt eskaliert ist?
Filipi: An dieser Version bestehen grosse Zweifel. Auslöser des Arabischen Frühlings in Syrien war eine Grossdemonstration im März 2011 in der südsyrischen Stadt Daraa. An dieser wurden mehrere Demonstranten durch Scharfschützen getötet. Der syrische Journalist George Baghdadi recherchierte zu dieser Geschichte. Er erzählte mir: Assad habe der Polizei befohlen, keine Waffen zu tragen, um ein Blutvergiessen zu vermeiden. Baghdádí war damals in Daraa vor Ort. Im April 2011 ereignete sich an einer Demonstration in einem Vorort von Damaskus ein weiterer Vorfall: Scharfschützen töteten dort von einem Dach aus mehrere Menschen. Die Schüsse kamen nicht von der Polizeikette. Das Ganze war sehr merkwürdig. Auch deshalb, weil es in dieser Region sonst nur wenig Demonstrationen gegeben hatte.
Weltwoche: Fand man später etwas über die Scharfschützen heraus?
Filipi: Nein. Was man aber sagen kann: Es ging darum, mit dem Massaker möglichst viel Hass zu schüren und damit einen Konflikt zu provozieren. Vieles spricht dafür, dass die Scharfschützen nicht im Dienst der Regierung gestanden waren.
Weltwoche: Im Westen machte man sofort Assad für diese schrecklichen Massaker verantwortlich.
Filipi: Medien behaupteten, dass Assads Sicherheitskräfte Oppositionelle erschossen hätten. Es hiess, Zabadani, ein Vorort von Damaskus, brenne. Doch das stimmte nicht. Ich machte mir selbst ein Bild vor Ort und fuhr dorthin. In Zabadani war es total ruhig. Auch über die Lage in Damaskus berichteten Journalisten völlig verzerrt. Einige Fernsehjournalisten aus Tschechien wollten von mir wissen, ob in der Stadt Schüsse gefallen seien. Ich dachte, ich sei im falschen Film. Das Einzige, was man in Damaskus sah, waren damals grössere Pro-Assad-Demonstrationen. «Glauben Sie mir», sagte ich. Die Journalisten schien das nicht zu interessieren.
Weltwoche: Im Libanon warf eine Zeitung später die Frage auf, ob die Israelis hinter der Schiesserei in Daraa stecken könnten. Ist das möglich?
Filipi: Die Wahrheit ist: Israel hat später im Syrienkrieg den Anti-Assad-Kräften sehr geholfen. 2011 dürften die Beziehungen zu Assad noch in Ordnung gewesen sein. Die israelische Regierung wollte zu diesem Zeitpunkt vermutlich noch den Status quo beibehalten.
Weltwoche: Bald stellte sich heraus, dass die eigentlichen Gegner Assads auf dem Kriegsschauplatz Dschihadisten waren. An vorderster Front der Islamische Staat (IS). Solche Leute wurden von Israel unterstützt?
Filipi: Natürlich. Sie behandelten beispielsweise verwundete Dschihadisten in ihren Krankenhäusern und brachten sie dann an die Front nach Syrien zurück.
Weltwoche: Sie zweifeln auch daran, dass Assad 2013 chemische Waffen gegen die eigene Bevölkerung hat einsetzen lassen?
Filipi: Diese Behauptung war von Anfang an fragwürdig. Das Ganze geschah in einem Vorort von Damaskus. Dort hielt sich damals gerade eine Delegation von Inspektoren der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) auf. Sie untersuchte, ob chemische Waffen eingesetzt worden waren. Assad ist nicht dumm. Er wird in dem Moment kaum einen chemischen Angriff lancieren. Mein Arzt in Damaskus sagte mir, dass die Opferzahlen zum Giftgasangriff komplett falsch seien. Im April 2017 kam es in Chan-Schaichun ebenfalls zu einem Giftgasangriff. Auch hier glaube ich die offizielle Version nicht. Niemand stellte damals die Frage: Wem nützt das Ganze? Als sich der Anschlag ereignete, hatte Assad neben den Iranern bereits die Russen mit an der Front. Er brauchte sicherlich keine Chemiewaffen einzusetzen. Die USA übten daraufhin einen Vergeltungsschlag aus.
Weltwoche: Syrien wird nach wie vor hart sanktioniert vom Westen. Wie ist die Situation heute?
Filipi: Es herrscht Hunger. Die Zustände sind so schlimm, dass viele Menschen erneut fliehen müssen. Es fehlt an allem. Vor allem Strom ist Mangelware. Sie können sich nicht vorstellen, wie verrückt das Leben ist, wenn Sie keinen Generator haben. Rund 95 Prozent der Syrer sind genau davon betroffen. Ihnen fehlt es ständig an Strom. Ein Generator ist eine teure Sache. Auch herrscht ein ständiger Mangel an Heizöl, Diesel und Benzin. Heizöl benötigt man für den Generator. Sogar unsere Botschaft musste ihre Kontakte pflegen und dann sehr viel bezahlen, um Heizöl und Benzin zu bekommen.
Weltwoche: 2020 verschärften die USA ihre Sanktionen gegen Syrien sogar noch. Dabei wusste damals doch schon jeder, dass Assad den Bürgerkrieg gewonnen hatte.
Filipi: Sie meinen den sogenannten Caesar Act. Dieser wurde nach einer Ausstellung in Brüssel und in Washington verhängt. Dort konnte man auf Fotos Zehntausende Tote sehen, die angeblich in Assads Gefängnissen verstorben sind. Gemacht haben soll sie ein syrischer Fotograf namens Caesar. Eine Teilnehmerin, die in der präislamistischen Phase noch der Opposition angehört hatte, sagte mir zu Beginn der Ausstellung: «Ich kenne einige der angeblich Toten. Sie leben noch immer.» Es sei eine Fälschung. Das Ganze sei in Katar auf die Beine gestellt worden. Ich kenne nicht die ganze Geschichte. Ich weiss aber, dass es grosse Zweifel gab. Auf Grundlage dieser Ausstellung verhängte der US-Kongress die Sanktionen gegen Syrien. Wer Geschäfte mit Unternehmen macht, die Infrastruktur-, Militär- und Energieprojekte in Syrien betreiben, bekommt Probleme. Die Atmosphäre, die man geschaffen hat, ist enorm abschreckend. Der chinesische Botschafter sagte mir: «Wir unterstützen Assad politisch, aber chinesische Unternehmen haben aufgrund ihrer globalen Verflechtung Angst vor Sanktionen.»
«Die Zustände sind so schlimm, dass viele Menschen erneut fliehen müssen. Es fehlt an allem.»
Weltwoche: Man schafft ein Klima, um jegliche wirtschaftliche Beziehungen zu unterminieren.
Filipi: Wir von der tschechischen Botschaft haben es gewagt, gebundene Spenden in Syrien zu leisten. Wir beauftragten ein Unternehmen, um 25.000 Bewohner einer Siedlung am Stadtrand von Damaskus mit Trinkwasser zu versorgen. Bezahlt haben wir das Unternehmen in Prag. Finanztransaktionen nach Syrien sind nicht möglich. Auch mir sind unglaubliche Dinge passiert. Vor drei Jahren benötigte unsere Botschaft einen Panzerwagen. Wir kauften ihn in Jordanien. Das Ministerium aus Prag zahlte die Rechnung an eine Firma in Jordanien, das Geld wurde jedoch gleich wieder zurückgeschickt. Dies, weil im Dokument stand, dass der Wagen für die tschechische Botschaft in Damaskus bestimmt sei. Jordanier haben Angst vor solchen Transaktionen, da diese über New York abgewickelt werden.
Weltwoche: Geniesst Assad noch immer echte Unterstützung?
Filipi: Die Stimmung war noch nie so schlecht. Das spürte ich besonders, als ich das Land letztes Jahr verliess. In Damaskus herrscht noch immer viel Wohlstand, in der Hauptstadt leben nicht wenige sehr reiche Menschen. Dort dürfte Assad sicherlich noch viel Vertrauen geniessen. Anders ist die Ausgangslage im restlichen Land. Vor etwa zwei Jahren war die Unterstützung für Assad noch sehr gross. Da war bereits klar, dass er die Macht im grössten Teil des Territoriums gefestigt hatte. Alle freuten sich auf das Leben nach dem Krieg. Doch seither ist es wirtschaftlich bergab gegangen. Die Lage spitzt sich zu. Deshalb hat Assad an Popularität eingebüsst, aber auch der Westen, der die Sanktionen vorantreibt, ist in Syrien unten durch.
«Der Witz ist, die syrische Opposition, auf die der Westen gesetzt hat, wird niemals in Syrien regieren.»
Weltwoche: Die Sanktionen scheinen zu greifen. Für Assad könnte es eng werden. Ein Präsident, dessen Bevölkerung erstickt, kann sich nicht ewig halten.
Filipi: Wollen wir die Syrer ernsthaft aushungern lassen, um Assad somit zum Rücktritt zu zwingen? Auch müssen wir uns fragen: Klammert sich Assad wirklich nur an der Macht fest? Oder plagt ihn die Angst, dass sein Land völlig auseinanderfällt, wenn er weg ist? Massive Armut, Verwüstung und die daraus resultierende Auswanderung sind das Ergebnis der westlichen Politik der letzten elf Jahre. Selbst Pflegekräfte und Ärzte, die dringend benötigt werden, denken heute oft über eine Auswanderung nach. Syrer fliehen vor dem Elend, das wir mit unseren Sanktionen verursacht haben. Sind das unsere Werte, Menschen in ein völlig unwürdiges Dasein zu stürzen?
Weltwoche: Was für eine Bevölkerung sind die Syrer?
Filipi: Die Syrer sind stets sehr freundlich, sowohl unter ihresgleichen wie auch gegenüber Fremden. In Syrien konnte man bis vor wenigen Jahren noch zu jedem nach Hause gehen. Die Gastfreundschaft war riesig. Als ich im Frühjahr 2011 nach Damaskus ging, deutete nichts darauf hin, dass bald einmal ein Konflikt vom Zaun brechen sollte. Im Zuge des Arabischen Frühlings war in Tunesien und Ägypten zwar die Hölle los. In Syrien blieb es anfangs aber ruhig. Als der Konflikt ausgebrochen war, beauftragte Assad seine Beraterin Buthaina Shaaban, mit der Opposition Kontakt aufzunehmen und in Dialog zu treten. Zu diesem Zeitpunkt stand für die westlichen Staaten bereits fest, dass es zu einem Regimewechsel kommen müsse. Die EU setzte Shaaban, eine makellose Frau, sofort auf die Sanktionsliste. Tschechien hat sich erfolglos gegen die Sanktionierung von Buthaina eingesetzt, die für Verhandlungen mit der Opposition verantwortlich war. Der Witz ist, die syrische Opposition, auf die der Westen gesetzt hat, wird niemals in Syrien regieren. Diese Vorstellung ist sinnlos. Syrer reagieren sensibel auf Anweisungen von aussen, so einfach ist das.
Weltwoche: Die Syrer reagierten ebenso sensibel auf die EU. Sie wehrten sich, ähnlich wie der ehemalige ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch, gegen ein EU-Assoziierungsabkommen.
Filipi: Noch vor Beginn des Kriegs lehnte Assad ein Assoziierungsabkommen mit der EU ab. Seine Regierung kam zum Schluss, dass ein solches für Damaskus von Nachteil sei. Schon damals dürfte Assad gewusst haben, dass der Einfluss der EU-Länder zunehmen würde. Assad lehnte zudem das Katar-Pipeline-Projekt ab, das westliche Länder unterstützten, um Russlands Position im Energiesektor zu schwächen. All das geschah kurz vor dem Arabischen Frühling.
Weltwoche: Wer waren die Big Player, die Assad stürzen wollten?
Filipi: 2012 fand in Tunis eine grosse Syrien-Konferenz statt, an der 118 Minister teilnahmen. Man einigte sich auf ein Abschlusskommuniqué, das eindeutig gegen Assad gerichtet war. Federführend waren Frankreich, Deutschland und Grossbritannien. Fürst Karel Schwarzenberg ärgerte sich enorm. Der damalige tschechische Aussenminister war in Tunis dabei. Syrien und die arabische Welt interessierten ihn schon immer. Er hatte eine andere Sicht auf den Konflikt. Echte Diskussionen fanden nicht statt.
Weltwoche: Wie schätzen Sie die Rolle der Amerikaner in Syrien ein?
Filipi: Sie verfolgten ihre «Greater Middle East»-Vision, die sie nach dem Ende des Kalten Kriegs entwickelten. Dieser Idee zufolge sollte bald einmal auch im Nahen Osten Demokratie, Harmonie und Frieden herrschen. Natürlich spielen wirtschaftliche Interessen hier eine Rolle. Aber meiner Meinung nach war die Ideologie der US-Dominanz noch entscheidender, die gerade im US-Aussenministerium vorherrscht.
Weltwoche: Wie meinen Sie das?
Filipi: Mit US-Werten kommt man im Nahen Osten nicht weit. Das sagte ich James Franklin Jeffrey einmal, dem Ex-US-Botschafter in der Türkei. Das war, als ich noch in Ankara war. Wir stritten uns. Und er meinte: «Wir haben doch bei euch gewonnen!» Er sah die Welt mit den Augen des Hegemonen. Später wurde dieser Ideologe Sondergesandter für Syrien. Da wusste ich gleich: Das wird eine Katastrophe. Hört man vom Weissen Haus den Satz «Assad muss gehen», fängt man als Botschafter natürlich an, sich entsprechend zu verhalten. Die Art und Weise, wie meine Diplomatenkollegen in Damaskus sich gleichschalten liessen, beunruhigte mich.
Weltwoche: Können Sie ein Beispiel nennen?
Filipi: Besonders geärgert hat mich die Konformität des französischen Botschafters Eric Chevallier, der Syrien sehr gut kannte. Chevallier hatte zu Beginn Präsident Nicolas Sarkozy noch gewarnt. Er kam zum Schluss, dass ein Regimewechsel in Syrien aussichtslos sei. Sarkozy wollte das nicht hören. Aufgrund dieser Aussagen drohte Sarkozy Chevallier, ihn als Botschafter abzuziehen. Wenig später begann er mit der im Exil lebenden syrischen Opposition zusammenzuarbeiten. All das tat er, um seine Karriere zu retten. Er wäre besser zurückgetreten.
Weltwoche: Beurteilten die Franzosen die Lage falsch?
Filipi: Als ehemalige Kolonialmacht legte Frankreich eine paternalistische Haltung gegenüber Syrien an den Tag. Die Amerikaner waren diesbezüglich realistischer. Ein Teil der syrischen Oppositionellen im Exil verlangte von den USA, dass sie gleich noch das politische Programm für die Opposition schreiben sollten. In Washington weigerte man sich, dies zu tun. Dafür sprangen die Franzosen in die Bresche. Sie gingen deutlich unkritischer mit der syrischen Opposition im Exil um und halfen dieser, ihre Forderungen auf Papier zu bringen.
Weltwoche: Wie muss man sich die Opposition in Syrien vorstellen?
Filipi: Sie war von Anfang an zersplittert. Das trifft sowohl auf die Opposition im Exil als auch auf diejenige in Damaskus zu. Dort gab es etwa dreissig Oppositionsgruppen. Als Botschafterin empfing ich all diese einheimischen Gruppen und sprach mit ihnen. Sie konnten sich nie auf eine gemeinsame Sprache, einen Konsens einigen. Sie stritten sich ohne Ende.
Weltwoche: Auch nach Ausbruch des Bürgerkriegs empfingen Sie noch Oppositionelle? War das nicht gefährlich?
Filipi: Natürlich werden die überwacht. Einige unter ihnen sassen lange im Gefängnis. Ich kenne tatsächlich viele der inländischen Oppositionellen. Meist sind es kluge und gebildete Leute. Ihre Streitlust war legendär. Einmal organisierte ein Kollege, ein Diplomat eines anderen Landes, ein Abendessen für sie. Noch vor Beginn des Abendessens fingen sie so heftig an zu streiten, dass ich unsere Sicherheitsleute anrufen musste, um mich gleich in unsere Botschaft fahren zu lassen.
«Christen fragten mich: ‹Was macht ihr Europäer? Warum helft ihr Islamisten?›»
Weltwoche: Spielte Katar eine wichtige Rolle in der syrischen Opposition?
Filipi: Anfangs hielten sich die syrischen Exilanten mehrheitlich in Paris auf. Später dann zunehmend in Kairo, Riad und der Türkei. Katar finanzierte syrische Oppositionelle in der Türkei. Ein Zeuge erzählte mir einmal eine Geschichte über Burhan Ghalioun, einen Oppositionellen, der an der Universität Paris III gearbeitet hatte. «25.000 Dollar sind auf Ihrem Konto angekommen», sagte ihm ein Gesprächspartner am Telefon. Einem syrischen Diplomaten, der 2011 nach Katar floh, zahlten die Katarer 25.000 Dollar im Monat. Sogar für eine Villa und die Schulgebühren der Kinder kamen sie auf. Der Opposition gehören aber auch grossartige Menschen wie der Arzt Haytham Manna an. Anders als viele andere sang er nicht das «Regime Change»-Lied. Mit Phrasen wie «Wir werden Assad stürzen» gab er sich nicht zufrieden. Er kam auch einmal nach Prag, um eine Sitzung des nationalen Koordinierungsausschlusses für demokratischen Wandel zu leiten. Dies geschah zu einer Zeit, als in Prag der Druck wuchs, die tschechische Botschaft in Damaskus zu schliessen. Manna hat mit seinem Besuch dazu beigetragen, unsere Präsenz in Syrien zu retten.
Weltwoche: Welche Interessen verfolgte die Türkei? Erdogan hat sich zu einem grossen Feind Assads entwickelt.
Filipi: Präsident Recep Erdogan gehört der Muslimbruderschaft an. Ich kenne ihn. Bei ihm spürt man buchstäblich: Er ist wirklich sehr gläubig. 2011 sagte Erdogan zu Assad: «Nehmen Sie vier, fünf Muslimbrüder in die Regierung auf.» Assad lehnte ab. Danach gingen die Türkei und Katar gemeinsam gegen Syrien vor. Katar, wo die Muslimbruderschaft stark ist, zählte zu den grossen Sponsoren der syrischen Rebellen.
Weltwoche: Jahrelang sagte man uns, dass von al-Qaida die grösste Gefahr für den Westen ausgehe. Gleichzeitig kooperierten westliche Staaten mit solchen Gruppen in Syrien.
Filipi: Der Westen unterstützte al-Qaida. In Syrien hiessen sie al-Nusra-Front. Ab 2015 kämpften nur noch Hardliner-Dschihadisten gegen Assad. Der syrische Machthaber machte damals verschiedenen Gruppen das Angebot, die Waffen niederzulegen. Einige taten dies tatsächlich. Es gibt Fotos von Rebellen, die mit Regierungssoldaten Bier trinken. Kämpfer, die ihre Waffen nicht niederlegen wollten, begaben sich in die Rebellenprovinz Idlib, die in der Nähe der türkischen Grenze liegt.
Weltwoche: Noch immer halten sich Islamisten in Idlib auf.
Filipi: Die Provinz Idlib ist bis heute eine Hochburg der Islamisten. Auch die Tschechische Republik verfolgt dort Projekte. Die gemeinnützige Organisation «People in Need» ist in Idlib aktiv. Sie wird unter anderem vom tschechischen Aussenministerium und der Europäischen Kommission subventioniert. In einer Depesche schrieb ich einmal: Wie ist es möglich, dass wir uns in Syrien mit ultrakonservativsten Regimen wie Saudi-Arabien und Katar gegen das säkulare Regime Assads verbünden? Damit machte ich mich sehr unbeliebt. Vor dem Bürgerkrieg war Syrien der säkularste Staat im gesamten Nahen Osten. Durch den Krieg hat sich das Land dem Islam angenähert. Der Westen hat dort aktiv den einzigen säkularen Staat im Nahen Osten zerstört. Das ist eine Realität. Christen kamen zu mir und fragten mich: «Was macht ihr Europäer? Hier werden unsere christlichen Gemeinschaften zerstört. Warum helft ihr Islamisten, was haben wir euch angetan?»
Weltwoche: War das der Grund, dass Wladimir Putin Assad zu Hilfe kam?
Filipi: Russland unterhält seit längerem enge Beziehungen zu Syrien. Militärisch unterstützte Moskau Assad seit 2015. Putin wollte damit die Pläne der USA für einen Regimewechsel vereiteln. Zudem sah Putin, dass in Syrien Dschihadisten aus dem Kaukasus kämpften.
Weltwoche: Assad wird oft als Vasall Teherans beschrieben. Stimmt das?
Filipi: Da bin ich mir nicht so sicher. Russland und Iran haben seinem Regime aus der Not geholfen, das stimmt. Aber die Dankbarkeit hat Grenzen. Meiner Einschätzung nach gehört Assad nicht zum Iran-Fanklub. In gewissen Bereichen hat er den Einfluss der Iraner in Syrien gar schon eingedämmt. Teheran möchte zwar Einfluss nehmen in der Region. An einer Eskalation sind sie aber nicht interessiert. Am besten übt man Einfluss aus, wenn Stabilität herrscht.
Die Diplomatin und Arabistin Eva Filipi wurde 1943 in eine Familie der Böhmischen Brüder hineingeboren. Ihr Bruder Pavel war später Theologe und Dekan der Evangelisch-Theologischen Fakultät. Eva Filipi studierte Nahoststudien an der Karlsuniversität in Prag. Ab den späten 1960ern arbeitete sie am Orientalischen Institut, später in der Nachrichtenagentur C�TK. Zwischen 1981 und 1991 war sie als freiberufliche Dolmetscherin und Übersetzerin tätig. Nach Ende des Kommunismus wirkte sie ab 1991 in der Diplomatie, zunächst als charge d’affairs im Irak, von 1997 bis 2002 als tschechische Botschafterin im Libanon, von 2004 bis 2010 in der Türkei, schliesslich von 2011 bis 2023 in Syrien. Filippi ist verheiratet und hat ein Kind.
Quelle: Weltwoche