Die Revanche der Russen für den Anschlag auf die Brücke von Kertsch fiel verheerend aus. Mit über 300 Raketenangriffen legte Russland fast die gesamte Infrastruktur der Ukraine lahm. Getroffen wurden aber nicht nur Elektrizitätswerke, Wasserwerke und dergleichen, sondern auch das Hauptquartier des ukrainischen Geheimdienstes SBU und das deutsche Konsulat in Kiew. Der Wiederaufbau der Infrastruktur würde Monate in Anspruch nehmen, heißt es aus ukrainischen Regierungskreisen. Im Augenblick sind die größten Teile der Ukraine ohne Internet, ohne Strom und ohne funktionierende Wasserversorgung.
von Max Erdinger
Douglas Macgregor ist pensionierter Colonel der United States Army, Politikwissenschaftler, Militärtheoretiker, Autor und Berater. Am 29. Juli 2020 nominierte ihn Präsident Donald Trump als Nachfolger von Richard Grenell für das Amt des Botschafters der Vereinigten Staaten in Deutschland. Vom Senat wurde die Nominierung jedoch nicht bestätigt. Gestern gab Macgregor Clayton Morris ein hochinteressantes Interview.
Morris Macgregor
Morris: Die westlichen Medien, besonders die Washington Post heute, bezeichnen die Schläge gegen die Ukraine als einen Wendepunkt in diesem Krieg. (…) Sind wir tatsächlich an einem Wendepunkt und wohin wendet sich das Blatt?
Macgregor: Es ist ein Wendepunkt der Schwerter, vielleicht nicht gerade so, wie die Washington Post suggeriert (…) Lassen Sie uns über die Entwicklung dieses Konflikts während der vergangenen sieben Monate reden. Krieg ist nicht statisch, sondern ein sich ständig änderndes Meer. Auch wenn es niemand wahrhaben will im Westen, aber Präsident Putin hat sich in den vergangenen sieben Monaten enorm zurückgehalten beim Gebrauch seiner militärischen Macht. Wir haben nie mehr als höchstens 20 Prozent der russischen Bodentruppen in der Ukraine gesehen. Und viele der regulären Bodentruppen wurden nach den ersten vier Monaten allmählich auch wieder abgezogen, nachdem die ukrainische Armee, die wir über mehrere Jahre aufgebaut hatten, zu einem großen Teil vernichtet worden war. Was es in der Ukraine zur Zeit noch gibt, ist eine Mischung aus verschiedenen Freiwilligen, Milizen, einigen alliierten Kräften wie die Tschetschenen, kubanische und kosakische Freiwillige, die sich als sehr gute Kämpfer herausgestellt haben plus die Wagner-Söldnertruppe, die sich ebenfalls als sehr effizient im Bodenkampf erwiesen hat. Aber die eigentliche russische Armee mit ihren regulären Kräften hat sich zum großen Teil zurückgezogen. Ich dachte eigentlich, sie würden Ende August zurückkommen, aber offensichtlich wurde die Entscheidung getroffen, das zu unterlassen. Was im Moment im Kreml passiert, ist meiner Meinung nach, Putin und seinen Beratern wird klar, daß es keine Chance auf eine Beendigung dieses Konflikts via Verhandlung gibt. An diese Hoffnung hat er sich aber wahrscheinlich geklammert, sogar im April, als wir und London Selenskyj verboten hatten, irgendwelche Kompromisse wie z.B. Neutralität zu akzeptieren. Nun haben wir es mit einem anderen Russland zu tun. Wir haben gestern gesehen, wie in drei Wellen 202 Raketen verschiedene Ziele in der ganzen Ukraine angegriffen haben. Das ist etwas, das sie die ganze Zeit hätten tun können. Sie haben ihre präzionsgelenkten Waffen genauso wie wir. Dieses Mal haben sie aber nicht nur die sogenannte kritische Infrastruktur getroffen, sondern auch das Hauptquartier des Geheimdienstes, einer Organisation, die notorisch damit beschäftigt ist, Leute umzubringen und sie mit vorgehaltener Waffe in feindlliches Feuer zu zwingen und die mit vorgehaltener Waffe Rekrutierungen betreibt, sowie Analysezentren, womit sie zeigten, daß in der Ukraine nirgendwo etwas geschieht, ohne daß sie es wüssten. Nicht einmal in der westlichen Ukraine passiert etwas, ohne daß Moskau davon wüsste. Es gibt dort nichts, das die Russen nicht erreichen und zerstören könnten. Ich denke, wir haben einen kleinen Vorgeschmack davon bekommen, was im Herbst auf uns zukommen wird. Ich sage voraus, daß es großangelegte Bodenoffisiven der Russen geben wird, wenn der Boden erst einmal gefroren ist. Es wird das passieren, was die meisten von uns eigentlich schon am Anfang des Krieges erwartet hatten: Größte Anstrengungen, um die ukrainischen Kräfte komplett zu vernichten.
Morris: Die westlichen Medien versuchen, diese Luftschläge als belanglos zu porträtieren. Angeblich verletzen sie die Ukraine nicht richtig. Ich habe das während der vergangenen 24 Stunden von einigen Propaganda-Medien gehört. Wenn ich durch die lange Liste der getroffenen Ziele gehe, muß ich mich wundern. Es wurden polnische Kräfte getroffen, die zusammengezogen worden waren, um in Russland einzumarschieren, NATO-Ziele, die getroffen wurden, der SBU, Wärmekraftwerke, es gibt Massen, die zur Zeit aus der Ukraine fliehen, weil sie kein frisches Wasser haben, kein laufendes Wasser, sie haben keinen Strom, sie haben kein Internet. Westliche Medien sagen also, die Treffer seien belanglos, der Ukraine gehe es gut. Was sagen Sie dazu?
Macgregor: Biden oder seine Berater fühlten sich dazu veranlaßt, Selenskyj zu versichern, daß wir ihn auch weiterhin unterstützen und mit Gütern versorgen würden. Da wird es keine Änderung geben. Zur selben Zeit bettelte Selenskyj um mehr Luftabwehrwaffen, da bei den russischen Raketenangriffen 80 Prozent der ukrainischen Luftabwehr zerstört worden sind. Wenn jemand suggeriert, daß das belanglos gewesen sei, müssen wir nur die Entwicklung ansehen und kommen sehr schnell zu dem Schluß: Oh, das ist verkehrt. Herr Selenskyj ist in Panik. Fraglos haben die Ukrainer nun ernsthafte Logikstikprobleme dabei, Dinge im Land hin- und herzubewegen. Plötzlich hat sich Russland entschieden, daß genug einfach genug ist – und die vergangene Zurückhaltung aufzugeben.
Morris: Zurück zu den Luftabwehr-Systemen. Selenskyj hat, wie Sie gerade erwähnten, mehr dieser Systeme nachgefragt. Die USA scheinen dem nachkommen zu wollen. (…) Was wird das der Ukraine nützen? Erklären Sie bitte, wer die bedienen würde. Wären die unbemannt oder würden das NATO-Soldaten besorgen? Ukrainisches Militär?
Macgregor: Diese Systeme werden zum größten Teil von sogenannten Vertragspartnern bedient. Dabei handelt es sich vermutlich um Amerikaner in Zivilkleidung, die einen Arbeitsvertrag mit der ukrainischen Regierung haben oder im Rahmen eines der anderen Mechanismen beschäftigt sind, die wir eingeführt haben. Es könnten Europäer sein. Aber diese Systeme verlangen eine lange Ausbildungszeit bis sie effektiv bedient werden können. Von der Instandhaltung gar nicht zu reden. Etwas, das NASAMS heißt, eines der besten Abwehrsysteme gegen Boden zu Boden-Raketen weltweit, hochkomplexes Radar, befand sich in Kiew – und es wurde zerstört. Wie schaltet man ein solches System aus? Durch die schiere Menge der Raketen, die das System abzuwehren hätte. Auf diese Weise läßt sich jedes System umgehen, egal wie gut es ist. Das ist das, was die Russen getan haben. Sie haben dieses Abwehrsystem mit Masse überwältigt.
Morris: Welche Rolle spielen NATO-Kräfte jetzt noch an diesem Wendepunkt angesichts der Dezimierung des ukrainischen Militärs? (…) Die besten Kräfte sind außer Gefecht gesetzt. Sie zu ersetzen ist nicht einfach. Werden sie durch NATO-Truppen ersetzt? Durch Vertragskämpfer? Wer wird die Lücke füllen, das Schiff bemannen?
Macgregor: Nun, die Leute die sich im direkten Bodenkampf befinden, sind Ukrainer. Es gibt Meldungen über eine große Zahl polnischer Soldaten in ukrainischen Uniformen, welche die ukrainischen Verluste ersetzen. Das passierte im Lauf der vergangenen Monate, weil – Sie haben darauf hingewiesen – die meisten der besten ukrainischen Einheiten nicht mehr existieren. Sie wurden getötet oder verwundet. Die Ukrainer haben tödliche Verluste von ungefähr 100.000 Mann und vielleicht 200 -, 300 – oder sogar 400.000 Verwundete. Das war einmal eine Armee von 600.000 Mann. Bedenken Sie: Wir haben diese Armee über 8 Jahre mit dem Ziel aufgebaut, Russland anzugreifen. Dafür wurde sie geformt. Das ist der Grund, warum die Russen sie angegriffen haben. Außerdem wollten wir Raketen in der Ostukraine stationieren, mit denen wir Russland hätten bedrohen können. Also nochmal: Die Ostukraine musste neutralisiert werden und das ist der Grund, weshalb die Russen dort intervenierten. Dabei haben sie sich, wie ich vorher schon ausführte, große Zurückhaltung auferlegt. Zunächst einmal ist das ein slawisches Land, ein anderes christlich-orthodoxes, slawisches Land. Die Russen haben kein Interesse daran, dort große Mengen von Leuten umzubringen. Sie wollten auch nicht viel Infrastruktur zerstören. Die gegenden, in denen die Russen im Osten und im Süden der Ukraine sitzen, waren vorher schon russisch. Sie wollten gleiche Rechte für die Russen mit anderen Ukrainern innerhalb der Ukraine sicherstellen. Das war der Punkt hinter dem Minsker Abkommen, der nie beachtet wurde. Es ist so zum gegenwärtigen Zeitpunkt: Sie schauen auf Kanonenfutter. Leute ohne großartiges Training werden zusammengetrieben, in Uniformen gesteckt, bekommen eine AK 47 in die Hand gedrückt und werden in Panzer oder andere Fahrzeuge gesteckt. Haben sie eine Ausbildung? Einige wenige haben sogar eine gute, die meisten anderen fast gar keine. Folglich werden die Gefallenenzahlen sehr hoch sein. Wenn man aber einmal das, was wir als die taktische Ebene bezeichnen, verläßt, und in die höheren Ränge blickt, wird man dort NATO-Personal finden, die den ganzen Zauber veranstalten. Leute aus Frankreich, Großbritannien, den Vereinigten Staaten und anderen Ländern arbeiten die Strategien aus und machen Vorschläge, was als nächstes passieren soll. Es gibt Hinweise darauf, daß der ukrainische Präsidenten unser Ratschläge nicht sonderlich ernstgenommen hat. Er ist darauf aus, anzugreifen, anzugreifen und nochmal anzugreifen. Wahrscheinlich sieht er sich selbst in einer Position, in welcher er zwar alles zu verlieren – aber nichts mehr zu gewinnen hat. Er denkt offensichtlich, er könne die Russen ermüden. Dabei ist es so, daß es für einen getöteten oder verwundeten Russen fünf-, sechs- oder sieben getötete oder verletzte Ukrainer gibt. Für die Russen rechnet sich das. Sie haben eine ziemlich kostengünstige Verteidigung, während sich die Ukraine extrem teure Angriffe leistet. Die Ukraine befindet sich in einer sehr ernsthaften Krise. Sie könnte das nicht überleben. Speziell, wenn die zu erwartende Offensive der Russen im November losgeht, weiß ich nicht, was die Ukrainer noch dagegen machen wollen. Dann werden sie mit regulären russischen Armee konfrontiert sein, einer großen Zahl russischer Truppen, nicht mehr nur mit Freiwilligen und alliierten Einheiten. Sie werden die operative Freiheit haben, das zu tun, was viele Russen schon von Beginn an tun wollten. Alles, was ihnen gefährlich oder als Bedrohung vorkommt, wird ins Visier genommen und zerstört werden. Das wird ein sehr unterschiedlicher Krieg sein, der da kommt.
Morris: Sie sagen das für November voraus, also für die nächsten Wochen?
Macgregor: Nun, ich komme nicht vom russischen Generalstab, aber wenn ich mir den derzeit stattfinden Aufmarsch auf dem Kriegsschauplatz anschaue – und sie kommen in Gruppen von 50.000 – rund um die Ukraine und verschiedenen anderen Orten, absolvieren gerade viel Training und treffen Vorbereitungen, dann werden sie sich zur Operation Axis vereinen, etwas, das wir schon zum Beginn des Krieges erwartet hatten, das dann aber ausblieb. Sie werden dann sehr hart und sehr tief zuschlagen. Alles, was sich in der Ukraine ihrem Vormarsch entgegenstellt, wird dann vernichtet werden. Das wird ihr Auftrag sein: Zerstörung und Vernichtung des Gegners. Wo werden sie mit ihrem Vormarsch aufhören? Ich nehme an, am Dnjepr. Sie waren nie daran interessiert, den Dnjepr zu überschreiten. Westlich des Dnjepr befindet sich die historische Ukraine. Das ist, wo die Ukrainer leben. Odessa wird an die Russen gehen, auch Charkow – und es gibt nicht viel, das wir dagegen tun können. Niemand im Westen wird etwas dagegen unternehmen können, es sei denn, er will sich in einen Krieg mit Russland begeben. Ich kann aber niemanden erkennen, der das will. Einzige Ausnahme sind möglicherweise die Polen, aber auch dort bröckelt die Unterstützung für diesen Krieg. In den USA interessiert sich sowieso kaum jemand dafür. Wir sind beschäftigt mit dem Hurrikan in Florida. Das ist ja auch der Grund, warum wir bislang mit dem durchgekommen sind, was wir in der Ukraine veranstaltet haben. Es gab so viele schlechte politische Entscheidungen, weil sich Amerikaner nicht dafür interessiert haben. Daran hat sich nicht viel geändert, auch wenn ein langsames Erwachen dahingehend einsetzt, daß nichts von dem stimmt, was ihnen in diesem Zusammenhang aufgetischt worden war.
Morris: Wir haben hier seit Wochen darüber geredet. Was passiert, wenn Odessa fällt. Die Ukraine wird zu einem Binnenland ohne Zugang zur See. Was wird mit Selenskyj passieren?
Macgregor: Darüber läßt sich nur spekulieren. Keine Ahnung, wie es mit Selenskyj weitergeht. Er könnte von seinen eigenen Leuten entfernt werden oder ein Flugzeug zu einem seiner Anwesen besteigen, nach Miami oder nach Venedig fliegen. Was Odessa angeht: Odessa war immer eine russische Stadt, auch wenn heute dort etwa 50 Prozent Ukrainer leben, nachdem Russen rausgedrängt worden sind. Dasselbe gilt für Charkow. Das waren beides russische Städte von allem Anfang an und dort wurde auch immer russisch gesprochen. Die Russen werden den Unsinn nicht länger mehr hinnehmen. Sie werden ihre Ziele verfolgen, wie Russen ihre Ziele immer verfolgen: Methodisch ausgeklügelt und unnachgiebig. Der neue Kommandeur, der gerade ernannt wurde, ist eine fähige Person mit einer guten Reputation. Er hat für die Russen in Syrien hervorragende Arbeit geleistet, er ist ein Hardliner und er hat alle Optionen zur Verfügung, die seinen Vorgängern verwehrt geblieben waren. Das wird ein Wendepunkt sein, aber anders als die Wahington Post das verstanden wissen will.
Morris und Macgregor unterhalten sich dann noch über Weißrussland und darüber, daß Russland gerade dabei ist, die antiquierte weißrussische Armee zu modernisieren. Macgregor ist aber der Ansicht, daß sich die Weißrussen eher auf ihre Grenze mit Polen konzentrieren werden.
Link:
https://journalistenwatch.com/2022/10/12/ukraine-aus-und-vorbei-selenskyj-am