Ich hatte in letzter Zeit vermehrt das Bedürfnis, eine Lanze zu brechen. Nämlich für meine Stadt. Für Wien! Ich liebe diese Stadt. Mein Wien!
Schon klar, die Statistik spricht ohnehin für sich. Im Jahr 2019 wurde Wien vom renommierten britischen „Economist“ bereits zum zweiten mal hintereinander zur lebenswertesten Stadt der Welt gekürt. Und ja, allen Raunzern zum trotz, behaupte ich: Wien ist tatsächlich lebenswert. Als Hobby-Reisende hab ich schon so manche Stadt besucht und kann hier ein wenig mitreden. Auch wenn Metropolen wie New York oder Barcelona mit Sicherheit ihren Charme und ihre tolle Atmosphäre haben - Wien braucht sich vor keiner dieser Städte zu verstecken. Schauen wir uns zunächst die praktischen Gegebenheiten an: ein Öffis-Netz wie in Wien findet man nirgendwo sonst auf der Welt. U-Bahn-Intervalle von 3 bis 5 Minuten zu Stoßzeiten, ansonsten wochentags 7 bis 8 Minuten, wo gibts das?
In Wien „menschelt“ es im übrigen wie in keiner anderen Stadt. Speziell in den traditionellen Wiener Kaffeehäusern: Es heißt, erst, wenn bei dem Gast das Gefühl aufkommt, sich beim Kellner für das Bestellen einer Melange und einer Sachertorte entschuldigen zu müssen, kann besten Gewissens behauptet werden, die Wiener Kaffeehaus-Mentalität und Tradition in vollen Zügen genossen zu haben.
Dies mag in der Vergangenheit durchaus der Realität entsprochen haben. Inzwischen ist auch das Dienstleistungsgewerbe in Wien im 21. Jahrhundert angekommen, und Freundlichkeit wird nicht mehr als Anbiedern und Aufgabe der Selbstachtung gesehen. Böse Zungen wollen hier einen Zusammenhang mit der Tatsache erkennen, dass inzwischen ein Großteil der Kaffeehaus-Kellner aus dem benachbarten Ausland stammt. Mag sein, aber im Grunde genommen sehen wir, in königlich-kaiserlicher Tradition, Ungarn und die „Behmen“, also Tschechische und Slowakische Bürger, ohnehin als halbe Wiener.
Überhaupt ist der „Grantler“, als welcher gemeinhin der Wiener gerne bezeichnet wird, inzwischen nicht mehr so gegenwärtig wie vielleicht noch vor der Jahrtausendwende. Obwohl wir das Spiel mit der Bösartigkeit und Boshaftigkeit nach wie vor zur Perfektion beherrschen. Legendär wurde jenes, gar nicht so lange zurückliegende Video, das während der ersten coronabedingten Lockdown-Phase entstanden ist. Die Menschen in Italien zum Vorbild nehmend, die, wegen Quarantäne in ihren Wohnungen eingesperrt, ihrem Freiheitsdrang einfach dadurch Ausdruck verliehen, dass sie von ihren Balkonen aus Lieder zum besten gegeben haben, hat ein vermutlich italienisch-stämmiger Wien-Bewohner gleiches hierorts versucht. Und ein inbrünstiges „Volare“ von seinem Wohnungsfenster aus in die Welt, oder besser gesagt, in die Gasse hinausgesungen. Lange hat es nicht gedauert, bis eine Ur-Wienerin auf dem Video zu hören ist, die dem Barden in völliger Ignoranz seiner Sangeskunst und unter Pochen auf Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung ein „Ruhe! Ruhe! So schen is des net!“ entgegenschmettert. Ja ja, das goldene Wiener Herz… Wir können es halt doch noch.
Aber es geht auch anders.
Denn auch wenn die Entstehung einer tiefgründigen Freundschaft mit einer echten Wiener Seele ein wenig auf sich warten lässt und nicht von heute auf morgen passiert, ist sie, wenn es dann einmal so weit ist, durchaus nachhaltig. Und ein echter Wiener als Freund ist etwas, worauf man sich verlassen kann. Den wird man so schnell auch nicht mehr los, denn auch wenn der Wiener das motschgern, also das ständige jammern und beschweren, zur Perfektion beherrscht, weiß er in Wirklichkeit, wie gut es ihm eigentlich geht. Und ist trotz zur Schau gestelltem Zynismus eigentlich ein toleranter Mensch. Leben und leben lassen ist des Wieners Devise. Diese Erfahrung hab ich, als Transgender, immer wieder gemacht.
Die Politik in Wien ist so eine Sache. Seit Jahrzehnten tiefstrot, musste der Häupl Michl 2010 der mehr als 60 Jahre andauernden absoluten Mehrheit nachtrauern und eine Koalition mit den Greenies eingehen. Über vieles, was die Stadtbonzen angerichtet haben, kann man streiten. Und nichts liegt mir ferner, als die Wiener Lokalpolitiker zu verteidigen, aber manche Sachen haben letztendlich doch einen positiven Ausgang. Vermutlich auch, weil der Wiener das Anpassen an neue Gegebenheiten perfekt beherrscht. Und seien wir ehrlich: die Verkehrsberuhigung in der Mariahilfer Straße zum Beispiel, hat, obwohl sie, zugegebenermaßen typisch Österreichisch, weder Fisch noch Fleisch ist, trotzdem zu einer angenehmeren Atmosphäre in der belebten Einkaufsstraße beigetragen. Konnte sich früher an belebten Samstagen höchstens im Schritttempo und unter ständigem Anrempeln fortbewegt werden, ist jetzt viel mehr Platz vorhanden. Und kann sich heute noch jemand vorstellen, dass in der Kärnter Straße jemals Autos gefahren sind? Wie groß war damals der Aufschrei. Der Weltuntergang wurde prophezeit. Oder zumindest der Untergang der Wirtschaft vor Ort. Und jetzt? Alles easy.
Überhaupt ist Gemütlichkeit eine zutiefst Wienerische Tugend. Und, meistens, auch Gelassenheit. Eben leben und leben lassen.
Wien ist anders. Wien ist toll. Wien ist wunderschön. Und lebenswert.
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