Weiße Ärzte im dunklen System. Wenn Ärzte keine Ärzte mehr sein wollen.

Rosa ist 37 Jahre alt und seit fünf Jahren als Allgemeinärztin in einer Gemeinschaftsordination in Wien tätig. Sie stottert ihre Dienste ab und verdient langsam halbwegs gutes Geld. Sie hat sich auf Homöopathie spezialisiert, hilft gerne Menschen und mag ihren Beruf eigentlich. Mit viel Einsatz und Ehrgeiz könnte sie bald ihre eigene Praxis eröffnen. Doch sie will nicht mehr und wird aussteigen. Die Bürokratie hat sie gebeugt, Rosa kommt zeitlich nicht mehr so ausführlich zu jener Aufgabe, die sie den Arztberuf ergreifen ließ: Menschen zu heilen. Ihr Frust ist sehr groß. Zu groß.

Bernhard ist 32, blitzgescheit, vielseitig begabt und Mediziner. Er hat mit Auszeichnung studiert und gerade Promotion gefeiert. Sein sechs Jahre älterer Bruder arbeitet bereits als Arzt und führt eine eigene Ordination. Es liegt eigentlich auf der Hand, dass auch Bernhard demnächst diesen Berufsweg einschlagen wird und bald seinen Turnus beginnt. Doch Bernhard will nicht, er ist skeptisch und versucht sein Glück derzeit in einer anderen Branche. Dass er wirklich bald sein Geld in der Gesundheitsbranche verdienen wird, ist eher unwahrscheinlich. Zu sehr schreckt Bernhard ab, was ihm befreundete Ärzte erzählen. „Bei den derzeitigen Bedingungen ist der Arztberuf für mich nicht sehr einladend, warum sollte ich das machen? Das kommt im Moment nicht in Frage“, sagt er.

Rosa und Bernhard heißen in Wahrheit anders und wollen ihren richtigen Namen nicht in dieser Geschichte lesen. Beide stehen stellvertretend für eine Gruppe von Medizinern, die genug hat von diesem System. Während Bernhard erst gar nicht in das Gesundheitssystem einsteigt, hat Rosa schlichtweg die Nase voll. Wer mit angehenden oder praktizierenden Ärzten wie Rosa und Bernhard spricht, der hört immer wieder von der geringen Attraktivität des Jobs auf der einen und von Überlastung, mangelnder Bezahlung, entrücktem Berufsbild auf der anderen Seite.

„Dieses Problem ist uns sehr wohl bewusst“, sagt Artur Wechselberger, Präsident der Österreichischen Ärztekammer. Laut Wechselberger beginnen wie Bernhard etwa fünf bis zehn Prozent der Medizin-Absolventen erst gar nicht die Ärzteausbildung. Das sind pro Jahr etwa 80 bis 100 fertige Mediziner, die erst gar nicht in das System einsteigen. Dazwischen liegen jene, die zwar fertig studiert haben und Arzt werden wollen, aber nicht in Österreich. Die negativen Begleiterscheinungen lassen sie einen Job im Ausland annehmen. Laut Wechselberger versehen derzeit mehr als 3.000 in Österreich ausgebildete Ärzte ihren Beruf im Ausland, die meisten von ihnen in Deutschland. Auf der anderen Seite des Spektrums stehen Ärzte und Ärztinnen wie Rosa, die einige Jahre im heimischen Gesundheitssystem gearbeitet haben, aber aus Unzufriedenheit aussteigen. Ihre Gesamtzahl lässt sich laut Ärztekammer schwer verifizieren.

Das Resultat ist ein Missverhältnis zu Ungunsten der Patienten. „Zwar ging die Zahl der Bevölkerung nach oben, die Zahl der Stellen von Kassa-Ärzten ist aber in den letzten Jahren weiter gesunken“, weiß Wechselberger. Bis zu 1.300 Planstellen fehlen, bezogen auf die Bevölkerung fehlen also in ganz Österreich bis zu 1.300 Ärzte. Und das spüren die Patienten: Volle Arztpraxen, stundenlange Wartezeiten besonders jetzt in der Grippezeit und zu wenig Zeit, die Ärzte den Kranken widmen können – auch wenn sie es wollen. In einzelnen Bezirken in Wien werden neue Patienten sogar abgewiesen, wenn sie nicht in diesem Bezirk hauptgemeldet sind.

Warum das so ist? „Österreich hat seit 20 Jahren ein System entwickelt, in dem die Bedürfnisse immer weiter weg vom kreativen Berufsbild des Arztes führen. Das ökonomische und bürokratische Vorgehen steht im Vordergrund, ein Systemerhalten herrscht vor“, klagt der Ärztekammer-Präsident. „Die Ärzte können ihre Tätigkeit auf den Patienten nicht entfalten. Sie stoßen an ihre Systemgrenzen.“ 30 bis 40 Prozent des Tagesablaufs würden für bürokratische Tätigkeiten aufgewendet werden müssen.

Rosa, die Allgemeinmedizinerin aus Wien, hat ihren Job mit Ende Februar gekündigt. .„Dafür habe ich nicht Medizin studiert, das tue ich mir nicht mehr an“, sagt sie. Rosa geht jetzt nach Paris, erfüllt sich ihren Traum und beginnt eine Schauspielausbildung.

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