Mit ihrer Entscheidung, das Gymnasium als separate Schulform nicht aufzugeben und es stattdessen weiterhin als Fixpunkt des neuen Grundsatzprogrammes zu behalten, hat die ÖVP auf der Seite ihres roten Koalitionspartners offenbar einen schlafenden Drachen geweckt: doch anstelle von Feuer speit die (bisher kaum durch großartiges sachpolitisches Profil aufgefallene) SPÖ-Bildungssprecherin Elisabeth Großmann als Replik nur Gift und Galle und schießt sich mit wüsten Worten in Form einer wutschäumenden Tirade auf die Volkspartei ein, die zwar weder durch stilistische Eloquenz noch durch viel argumentative Substanz auffällt, aber immerhin laut genüg tönt, um medial rezipiert zu werden: von „Steinzeit“, in die die ÖVP zurückkehren wolle und „Mottenkisten“, in denen sie krame, ist da die Rede, eine vollständige Auflistung der über weite Strecken inhaltsleeren Verbalinjurien, derer sie sich bedient, wäre wenig sinnvoll, handelt es sich doch um eine öde Aneinanderreihung von Uraltvorwürfen aus dem SPÖ-Standardphrasenverzeichnis.
Dennoch fanden sich inmitten des sachpolitisch insgesamt wenig beeindruckenden Wortschwalls von Frau Großmann doch tatsächlich ein, zwei Argumente, auf die es einzugehen lohnt, um eine kritische Replik anzufertigen. So behauptet sie, unter nicht näher spezifizierten „Experten“ sei die SPÖ-Linie doch längst Common Sense. Das mag vielleicht zutreffen, wenn man unter den Begriff „Experte“ nur Celebrity-Dampfplauderer subsumiert, die die allabendlichen Talkshow-Runden besetzen und unzählige „ZIB2“-Sendeminuten in Anspruch nehmen. Legt man ihn aber breiter aus und inkludiert auch all jene, die in der Praxis das Rückgrat des Schulsystems formen, namentlich Lehrer, Schüler und Eltern(-vertreter) sieht die Sache bereits anders aus: in diesen Gruppen findet das Gymnasium als bewährte und verlässliche Schulform weiterhin erheblichen Zuspruch, wie Umfragen und einschlägige Stellungnahmen schon seit Langem beweisen. Dass die SPÖ gegen den Willen dieser Gruppen dennoch ihr ideologisch motiviertes Pilotprojekt durchdrücken will, zeugt von einer paternalistischen und bevormundenden Haltung.
Ungeachtet dessen hantiert SPÖ-Bildungssprecherin Grossman darüber hinaus mit dem gängigen Totschlagargument, das Festhalten am Gymnasium sei eine Uralt-Position, die einer Bildungspolitik im „Rückwärtsgang“ entspreche. Eine dreiste Behauptung, wenn man sich die Tatsache zu Gemüte führt, dass das rote Gegenkonzept de facto beinahe fast schon so alt ist wie der parteipolitisch organisierte Sozialismus selbst. Dies hindert Grossmann jedoch nicht daran, die Gesamtschule salbungsvoll als „modern und fortschrittlich“ lobzupreisen und zu behaupten, dass sie „das richtige Modell“ sei „und für mehr Bildungsgerechtigkeit sorgt“. Die Frage, ob Grossman den NMS-Evaluierungsbericht und vor allem seine niederschmetternde Conclusio gelesen hat, erübrigt sich ob so viel ideologischer Blindwut, die nichts dabei findet, für ein abstraktes Ideal von Gerechtigkeit mit dem Vorschlaghammer auf ein altbewährtes Schulmodell einzudreschen und diesen unreflektierten Akt der Destruktion wie zum Hohn als „Fortschritt“ zu titulieren.
Der SPÖ-Plan einer „one size fits all“-Einheitsschule hat drei wesentliche Implikationen: die Wahlfreiheit für Eltern und Schüler zwischen unterschiedlichen Schulformen mit unterschiedlichen Bildungs-Approaches gilt den NMS-Ideologen nichts. Schüler werden zur Verschubmasse für politische Prestigeprojekte degradiert. Ihre individuellen Präferenzen und Interessenslagen werden für ein wolkig-egalitäres Ideal von Gerechtigkeit geopfert, obwohl nur ein Wettbewerb zwischen konkurrierenden Schulsystemen es ermöglicht, eine Angebotsvielfalt zu gewährleisten, die der Talentevielfalt der Schüler widerspiegelt. Darüber hinaus sollen bestehende, funktionierende Gymnasien auch gegen den Willen der dort Lehrenden und Lernenden zwangsweise geschlossen bzw. umgewandelt werden. Wenn das das Fortschrittsideal ist, das die SPÖ verwirklichen will, dann ist es keine Schande, einem derart fehlgeleiteten Modernisierungsfuror entgegenzutreten, auch, wenn man dadurch Gefahr läuft, von politischen Statisten wie Grossmann als reaktionärer Höhlenmensch besudelt zu werden.
Zuletzt: auch das Gymnasium muss trotz seiner Bewährtheit nicht der Weisheit letzter Schluss sein – es ist in der Tat geboten, die soziale Mobilität im Schulsystem zu verbessern und die Vererbung von Bildungsstandards zu bekämpfen. Dies jedoch durch derart brachiale Gleichmacherei zu realisieren, wie die SPÖ dies vorschlägt, ist der falsche Weg. Eine deutliche Ausweitung der Schulautonomie, wie sie etwa die Neos fordern (wenngleich eher zaghaft), verspricht da schon bessere Resultate: Konkurrenz und Angebotsvielfalt funktionieren nicht nur in konventionellen Wirtschaftssektoren, sondern können auf den Bildungsbereich ausgedehnt werden. Das Gymnasium wäre in einem solchen System nur eines von vielen Modellen, für oder gegen das sich Eltern und Schüler entscheiden könnten. Optimalerweise geschähe dies unter Miteinbeziehung des privaten Sektors, zum Beispiel durch die Ausgabe von Schulgutscheinen, die es auch sozial schwachen Eltern erlaubt, ihre Kinder bei entsprechendem Wunsch auf private Schulen zu schicken. In Dänemark, den Niederlanden und den USA hat man mit solchen und ähnlichen Ideen gute Erfahrungen gemacht. Bleibt nur zu hoffen, dass diese Erkenntnisse irgendwann auch einmal im notorisch reformresistenten Österreich aufgegriffen werden.