Wir lesen gerne wahre Geschichten von Menschen, die schreckliche Ereignisse überlebt haben. Eine Fülle von Holocaust Memoirs, u.a. “Trotzdem Ja zum Leben sagen” von Viktor Frankl, legen Zeugnis ab und zeigen den Leser/innen, wie es möglich ist, Konzentrationslager zu überleben. Seit Mitte der 90er Jahre gibt es das Genre des Misery Memoirs, beginnend mit Dave Pelzers 1995 erschienenem “A Child Called “It” (deutsch: Sie nannten mich Es). Darin beschreibt Pelzer seine unfassbar grauenhafte Kindheit.
Dieses Memoir führte mich, so wie auch viele andere Memoirs, als Leserin durch ein Schreckenskabinett, in Kellern gefangene, gefolterte, lebensgefährlich missbrauchte Kinder, Berichte aus unvorstellbaren Höllen, die sich nach außen hin „Familien“ nannten, Abgründe von Sucht und Gewalt… Als weitere millionenfach verkaufte derartige Misery Memoirs sind „A Million Little Pieces“ von James Frey, ein Bericht über seinen Weg hinaus aus Sucht und Gewalt, zu nennen, aber auch Bücher von Augusten Burroughs, der ebenfalls Sucht und dysfunktionale Familienverhältnisse beschreibt.
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Das Oxford Dictionary definiert das Misery Memoir als „an autobiographical work in which the author recounts personal experiences of abuse or other trauma, typically suffered during childhood, and their eventual recovery from such experiences.“
Viele Misery Memoirs erzählen schreckliche Geschichten, ohne sie zu verarbeiten oder zu reflektieren und tun so den Leser/innen, die nach gelungenen Überlebensstrategien suchen, nichts Gutes. Memoirs wie die von Dave Pelzer haben Wunden in mir hinterlassen, Schreckensbilder, die hochkommen wie eigene traumatische Erinnerungen. Einige dieser gequälten Kinder bevölkern nun neben meinem inneren gequälten Kind so manch dunklen Raum.
Texte wie diese sind meines Erachtens zu früh publiziert worden und für viele Leser/innen nur schwer auszuhalten. Es ist verständlich, dass die Autor/innen diese Texte so schnell wie möglich loswerden wollten, weil es schwer auszuhalten ist, solche Erinnerungen wieder zu erleben. Aber es ist notwendig, weiter zu gehen, vielleicht nicht gleich nach dem ersten Rohtext, aber auf jeden Fall vor dem Schritt in die Öffentlichkeit: wieder und wieder die erste Fassung der Erinnerungen hernehmen, sie überarbeiten, sie verwandeln. Nicht beschönigen oder glätten, sondern durcharbeiten und so dem Leser eine Form präsentieren, in der er nicht ins nackte Grauen eintaucht, sondern in das reflektierte Leben…
Dave Pelzer hat mittlerweile sieben weitere autobiographische Bücher veröffentlicht, hat also seit seinem ersten, viel zu nahe am Trauma angesiedelten Memoir, weiter an sich gearbeitet und widmet sein Leben dem Kampf für Kinderrechte. Diese Transformationsarbeit ist für mich das spannendste und wertvollste am Memoir-Prozess. Nicht nur mein Elend „rauszukotzen“, sondern es zu verwandeln, um so immer mehr innere Räume mit Licht erfüllen.
Bildquelle: Collage von Johanna Vedral