Die Rotatorenmanschette bewegt die Schulter. Sie besteht aus mehreren Muskeln und einer davon ist am Donnerstag abgerissen. Am späten Nachmittag in meiner rechten Schulter. Es hat „trrrng“ gemacht, glaube ich. Aber gehört habe ich das nur nach innen. Außen war es ruhig. Ja, schon – „klack“ beim Rausheben und das zischende Lufteinziehen wenn die Hantel hinunter zur Brust gelassen wird. Weil ich mit Schwung ausstoßen wollte kam auch noch das fordernde Knurren. Bis zum „Trrrng“, aber das war eben innen. Die Anderen hörten das „Ahhhpfschei“ - das war außen und laut, trotzdem irgendwie gepresst und gedämpft, es war aber klar, dass ich das Gewicht selber nicht wegheben werde können. Und dann ist mein Arm nur mehr hinunter gehangen. Ich hab mich aufs Bauchbrett gesetzt und versucht, ob irgendwas geht. Seitlich anheben, keine fünf Zentimeter. Nach vorne auch nicht mehr. Zurück, also eine Bewegung wie beim Langlaufen oder so, funktioniert es besser.
Der Orthopäde, der mich noch am Abend untersucht, hilft mir aus dem kurzärmeligen Hawaiihemd und gibt Anweisungen: Arm seitlich heben – geht nicht. Kraft ist auch keine da. Es ist so ein Mittelding. Kann ich nicht, komm ich nicht über den Schmerz oder ist die Kraft weg? Vielleicht kann ich nicht weil die Kraft weg ist. Jedenfalls hat es da was Ernstes. Wahrscheinlich nichts mit dem Knochen sondern so eine Muskel- oder Bändersache.
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Am nächsten Tag ergibt das Röntgen keinen knöchernen Befund aber die MRT zeigt eine Ruptur der Rotatorenmanschette. Welcher Muskel genau gerissen ist, weiß ich noch nicht. Ich hab nur die CD – die sagt mir nix – und eine telefonische Kurzinfo: „Muskel gerissen. Ohne Operation bleibt das stark eingeschränkt.“ Auf den Bildern im Netz schaut es aber so aus, als sei „Supraspinatus“ für den Jammer verantwortlich.
Ja, aber eigentlich geht es um all das gar nicht. Oder nur indirekt.
Ich geh in Steinhof – so haben wir das immer genannt, oder Zitronenhügel, oder Lemonäberg – spazieren. Jetzt heißt das Areal glaube ich Otto-Wagner-Spital oder Klinik Penzing. Ich weiß es nicht genau. Ich trag den Arm in der Schlinge, weil das Pendeln weh tut. Es ist ein wunderschöner Spätsommervormittag. Warm aber nicht heiß. Das ist gut, weil das Duschen schwierig ist. Ich will nicht dauernd schwitzen. Ich geh immer bei der Steinhofer Mauer rein und zwar dort, wo die Leichenhalle steht. Die hat mich schon als Kind beeindruckt. Das düstere Gebäude zwischen den Nadelbäumen, das zu dem Ort gehört, an dem Geisteskranke eingesperrt waren. Das war meine Kinderwahrheit. Mehr wusste ich nicht. Aber das war genug für düstere, beängstigende Fantasien.
Jetzt meide ich den Teil, der neu bebaut wurde. Man hat das zwar schön gelöst, aber mich interessieren neue Wohnungen für fröhliche Familien nicht. So wirkt das auf mich. Ich bewege mich zwischen den alten Pavillonen. Backsteingebäude mit kaputten oder vernagelten Fenstern. Oft haben die große Veranden, die mit Gittern versperrt sind. Und manchmal sind diese Einheiten von einem verwilderten Garten umgeben, um den sich eine Mauer legt.
Ich mag diese vernarbte Trauer. Ich spüre sie stark. Ich habe viel später erfahren, dass dort damals „unwertes Leben“ beendet wurde. Vor Jahren hat man die sterblichen Überreste von Kindern beerdigt. Die wurden dort bis lange nach nach dem Krieg – wahrscheinlich in Gläsern als Präparate – gelagert. Ich habe über diesen Wahnsinn vor Jahren ein Buch gelesen. Ich glaube, es hat „Die Kinder vom Spiegelgrund“ geheißen.
Ich habe damals langsam erfahren, dass all das auch etwas mit meiner Familie zu tun hat.
Mein Opa war ein sanfter Mann. Ganz feingliedrig, mit schönen Beinen und einem scharf geschnittenen Gesicht. Wenn er mich bei der Hand nahm und mit mir über den Beton vor dem Gemeindebau ging, dann schmatzten seine Schuhe. Meine taten das nie. Den Dreck wischte er mir aus dem Gesicht, indem er auf sein Stofftaschentuch spuckte und kräftig rieb. Die Wohnung der Großeltern war im fünften Stock, und wenn eines der Enkelkinder sich dem Fenster näherte rief er aufgeregt: „weg vom Fenster!“ Er lag gern auf seiner Eckbank. Obwohl, die war gar nicht so bequem. Machchmal lag er auf dem Bauch, stützte den Kopf in die hohlen Hände und murmelte etwas. Mitunter klang es, als würde er das Knallen von etwas nachmachen. Wenn er auf dem Rücken lag, hatte er ein Knie aufgestellt und legte das andere darüber. Die Hände waren hinter dem Kopf verschränkt der auf einem Mekki-Polster lag. „Mei Rua wü i haum“, stand da drauf. Die Mekkis fanden sich auch in dem dunklen Wandverbau. Dort als Figuren.
Der Opa konnte Mandoline und Mundharmonika spielen. Als er jünger war, schrieb er Liebesbriefe und wenn ich es wollte, zeichnete er Pferde für mich. Manchmal auch einen Spaziergänger der mit Schwung einen Stock nach hinten schleuderte. Er sang auch gerne. Oft „Wem Gott die rechte Gunst erweise, den schickt er in die weite Welt“. Ich hab mich später gefragt, ob ihn dieses Lied in den Wahnsinn begleitet hat. So als Soundtrack in einen freudigen Selbstmord im russischen Winter.
In unserer Familie wurde erzählt – meist wenn der Opapa gemurmelt hat – dass ihm der Erregungsnerv gezogen worden war. Später wurde mir klar, dass man den Opapa, einige Jahre nach dem Krieg, lobotomiert hatte.
Er war eines von, ich glaube acht, Kindern. Die lebten in einem Gemeindebau in der Vorstadt der, wegen seiner roten Farbe, „Paprikakisten“ genannt wurde. Als ich, als kleines Kind, mit ihm einige seiner Geschwister besuchen ging – wir waren meist zu Fuß unterwegs – bemerkte ich, dass ihn die sehr von Oben herab behandelt haben. Mein Opapa sei immer schon ein bissl komisch gewesen, hörte ich später manchmal. Wobei das „Komische“ das beschrieben wurde, meist mit der Sensibilität eines Buben in einer eher brachialen Vorstadtfamilie zu tun hatte. Seine Geschwister waren oft laut, rechthaberisch und stellten sich gerne in den Mittelpunkt. Er war nicht so und der Zweitjüngste der Kinder.
Mich begann das alles zu interessieren. Was ist ihm in seinem Leben passiert? Er erzählte eigentlich immer die gleichen Geschichten. Etwa die über den Fliegerangriff, als sie von der Ladefläche des Lastwagens springen mussten und seinem jungen Kameraden der Kopf von dem Hinterrad zerquetscht wurde. Oder als er von Partisanen gefangen wurde. Er verstand ein paar Brocken von dem was sie erzählten. Es war Abend und sie sagten, dass sie ihm am nächsten Tag umbringen werden. „Do hob i mi in der Nocht draht“ erzählte er dann.
Ich wollte mehr erfahren und habe nachgefragt. Das war zäh. Er wollte oder konnte nicht systematisch erzählen.
Aber das konnte ich dann doch notieren:
„Ich wurde zum Arbeitsdienst nach Schwarzau im Gebirge einberufen. Der Arbeitsdienst machte mir keine Freude da ich zu
Hella Heim wollte. So meldete ich mich Krank. Im Lazarett haben sie mich als Gesund erklärt. So wurde ich vom Arbeitsdienst entlassen. Da war ich wieder bei Hella zu Hause. Wir waren damals noch ein Liebespaar. Wir unternahmen eine Radtour nach
Pernitz Muckendorf. Als ich nach Hause kam war schon der Einberufungsbefehl nach Strebersdorf zu einer schweren MG.
Infanterie da. Nach 14 Tagen wurden wir nach St. Jean de Angeli verlegt. Nach 14 Tagen wurde ich zu den Infanterie Pionieren
nach Saintes versetzt. 6 Wochen Ausbildung dann wurden wir nach Polen einwagoniert. Das war 1941. Dort mußten wir
Schützengräben ausheben. Am 21. Juni, 3 Uhr Früh begann der Krieg mit Russland.
Wir stießen nach Janov, einer russischen Punkerlinie vor. Weil ich noch keine Kinder hatte, wurde ich zum Stoßtrupp
eingeteilt, der den Bunker stürmte und die Russen gefangen nahm. Da hatte ich den ersten deutschen Toten gesehen.
Dann ging der Vorstoß immer tiefer nach Russland. Bei Dimer beschoss uns der Russe mit Artillerie. Wir hatten einen
Volltreffer und die ersten zwei Toten (Strom und Fiedemann) Wäre ich draussen gelegen wäre ich es auch gewesen.
Vor dem Krieg mit Russland haben wir geheiratet. Als ich zurück kam an die Front, fing der Krieg mit Russland an.
Ich war damals im Schützenloch. Dann begann die Schlacht in Kiev. Nach dieser Schlacht glaubte ich der Krieg wäre
beendet.(400.000 Russen sind in Gefangenschaft gegangen)
Dann sind wir in den Donzbecken vorgestoßen bis Carkov. Die Schlacht dauerte drei Wochen, wir verloren drei
Mann. (Steiner, Lederer, Stumpfer) Wir sind nach Bulakleia (schwere Schlacht)
Wir sind gut rausgekommen. Dann kam die Winterschlacht. Bis zum Frühjahr sind wir wieder Vorgestoßen auf
Kupijanks. Da sind wir an einem Fluß am Oskol angekommen. Der Feldwebel hat mich eingeteilt mit dem Schlauchboot
überzusetzen. Zum Glück hatten sich die Russen zurückgezogen. Beim Oskal Achtirka hatten dieRussen die Brücke
gesprengt. Wir mußten sie wieder aufbauen. Wieder zwei Tote beim übersetzen. Bei Achtirka hatten wir einen Volltreffer.
Ich sprang ins Wasser, wo ich fast ertrunken wäre. Der Feldwebel hat mich mit dem Schlauchboot herausgeholt.
Das war im Oktober.
Dann sind wir vormarschiert nach Kalatsch (zwei Tote-Kala und Lutzer)
Dann war der Marsch auf Donnbogen bis Stalingrad. Ich bekam nach 18 Monaten Fronturlaub.
Nach der Rückkehr war der Kessel geschlossen. Man wollte mich mit dem Flugzeug reinfliegen. Mein Glück waren meine
schlechten Zähne. Der Rest der Division waren die Urlauber.
Wir kamen zur Neuaufstellung nach Belgien-Maria Haide. Von dort sind wir nach St. Niklas gekommen, dann zur Weiterausbildung nach Zwintrecht, von dort nach Burcht und nach Alarmstimmung nach Italien-Venedig an die italienische
Front. (Gegen Franzosen, Engländer und Amerikaner) Wir sind am Gargiono, einem Fluß gelegen. Dort hatten die Alliierten
eine Großoffensive gestartet. Nach 3 Stunden Trommelfeuer war Monte Cassino von den Amerikanern erobert.
Wir entwaffneten Italiener, ich hatte einen Oberst geschnappt........................................ „
….weiter bin ich nicht gekommen.
Er muss etwa 18 Jahre alt gewesen sein, als er all das erlebt hat. Er hat es aber wenigstens überlebt.
Und dann war er „komisch“. Heute hätte man vielleicht gewusst, was eine posttraumatische Belastungsstörung ist. Vielleicht hätte man ihm sogar geholfen. Damals wurde er einfach nach Steinhof gebracht, wenn er komisch war. Das wieder, hat oft meine Großmutter, seine Frau, entschieden. Ich überlege, ob ich sie „Ungeheuer“ nennen soll. Aber das trifft es nicht. Sie war einfach dumm und verschlagen. Ich glaube, dass die großen Bösartigkeiten viel öfter aus Dummheit als deswegen passieren, weil einer einfach das Monstergen auslebt. Sie war falsch und das Urteil der Menschen war ihr unglaublich wichtig. Sie hatte diese Heimatfilm-Pose drauf: Faust verkehrt in die geknickte Hüfte, den Kopf in die Gegenrichtung gebeugt und ein strahlendes Lächeln. Das sollte, resches, patentes, Mädchen mit Herz heißen, oder so. Im Aufzug sagte sie uns Kindern „schön grüßen, die Frau Hejda! Schön grüßen!“ Und wenn die Wohnungstüre zu war erklärte sie, was das für ein Trampel sei. Die Hejda. Ihr saß die Hand leicht, und ihre Kinder bekamen das auch zu spüren. Mitunter hat sie auch den Pracker (Teppichklopfer) verwendet. Gemessen an damaligen Üblichkeiten war das aber wohl keine Züchtigung, sondern normale Erziehung. Mein Opa hat sich daran aber nicht beteiligt. Auch das trug ihm ein, von seiner Frau „Trottl“ genannt zu werden.
Als meine Mutter und ihre Schwester auf Kindererholung geschickt werden sollten, eskalierte die Situation. Die Schwestern wollten nicht in das Heim in Seebenstein. Sie waren schon einmal dort, und hatten den Aufenthalt als schrecklich erlebt. In der Nacht durfte man nicht aufs Klo und musste heimlich in den Blumentopf pinkeln. Die Betreuerinnen glichen Gefängniswärtern. Jedenfalls wurde deswegen gekreischt und gestritten. Irgendwann musste mein Opapa doch Stellung beziehen – er hatte ja lieber seine Ruhe – und sagte: „Die Mädchen bleiben da, wenn sie dort nicht hin wollen.“ Seine Frau wollte ihm die aufrührerische Gegenposition nicht durchgehen lassen und wurde immer wilder. Solange bis mein sanfter Opapa ihr in seiner Wehrlosigkeit eine schmierte. Dann ging es aber los. Die Omama sperrte sich hysterisch am Häusl ein und schickte ihre Tochter auf die Polizei. „Der Papa schnappt über!“ Meine Tante erzählte mir von dem traumatischen Erlebnis. Auf der Polizei stand ein dicker Beamter. Bei dem musste sie Ihren Papa anschwärzen. Der Polizist kam sofort mit und meine Tante glaubte – weil man den eigenen Vater als stärker einschätzt, als er es ist –, dass der es mit ihrem Papa nicht aufnehmen werde können. Letztlich wurde der Opapa abgeführt.
Damals gab es Ärzte die, so wurde es meiner Tante später erzählt, „gerne schnitten“. Mein Opapa fiel einem solchen in die Hände. Eine Ehegattin die auch noch mitzieht, war für so einen ein Glücksfall. Da kam sicher noch dazu, dass meine Omama, obwohl aufrechte Sozialistin, sich vor jedem Doktortitel anschiss bis übers Kreuz. Sie hätte mit dem immer gemeinsame Sache gemacht.
Mein Opa erzählte mir, dass die ihn auf eine Liege geschnallt hätten. „heatdu (heast du), i hob goa ned gwusst wos de mochn“ sagte er. Und viel später „eh egal, ich hab mich danach wenigstens nicht mehr aufgeregt.“
Jetzt geh ich da, mit meinem Arm, und frage mich, wo man dir wehgetan hat. In welchem Haus hat man dir in den Kopf gebohrt und dich eingesperrt wie ein wildes Tier? Und wie das wirklich war. Meine Tante hat mir neulich erklärt, dass du auch mal in der berüchtigten Klinik Hoff warst. Womöglich wurde dir das auch dort angetan.
Meine Tochter, Deine Urenkelin, macht grad ihren Master in Geschichte. Du warst ihr „Milchschokolade-Opa“. Du hast den immer zum Nachtisch im Pensionistenheim bekommen und ihn ihr mitgebracht. Geld hattest du nie bei dir. Das verwaltete deine Frau. Vielleich hattest du manchmal ein paar Münzen in dem kleinen Börsel, das ja nur für Hartgeld ausgelegt war. Jedenfalls ist ihr das auch nicht egal, was damals mit dir passiert ist. Vielleicht wird sie es genauer wissen. Irgendwann.
Mir tut jetzt langsam die Schulter weh, auch in der Schlinge. Aber wie groß müssen deine Schmerzen gewesen sein? Und ich bin hier traurig, inmitten der alten Mauern in denen schreckliches passiert ist, aber auch wegen meiner bevorstehenden Operation. Wie traurig warst du nach all dem? Man würde deiner Generation unterstellen, dass sie härter war. Das mag oft stimmen. In deinem Fall aber nicht. Du warst nicht stark oder robust. Wie konntest du all das nur überleben? War es Tapferkeit? Resignation?
Ich habe irgendwann den Kontakt zu deiner Frau abgebrochen. Ihre dümmliche Bösartigkeit wollte ich nicht mehr ertragen. Du hast uns weiter besucht. Im Geschäft hast du vor Weihnachten geholfen, die Zapfen für die Trockengestecke zu streichen und in Flitter zu tauchen. Du warst meistens weißer und geflitterter als dein Arbeitsmaterial. Deine Frau wollte dir verbieten, das Weihnachtsfest mit uns zu feiern - das hast du immer gemacht. Und da hast du dich einmal durchsetzen können. Endlich. Du bist die letzten Jahre alleine bei uns gewesen. Geld für ein Geschenk hast du nie gehabt. Trotzdem wolltest du etwas mitbringen. Zuletzt waren es zwei Pupperln auf einer Schaukel. Wo hast du die her gehabt? Waren die ein Geschenk vom Pensionistenheim? Jedenfalls halte ich die in Ehren. Und ich bin froh, wenn ich dich in mir erkenne. Ich bin gerne so komisch wie du. Jetzt spaziere ich langsam heim. Vor der Operation werde ich an dich denken, und an deinen Schmerz und deine Traurigkeit. Und dann werde ich versuchen so tapfer zu sein wie du, Opapa.