Der Zahn zieht. Oder der Bereich unter dem Zahn. Ich kann das nicht exakt orten. Heuer war ein, medizinisch betrachtet, schlechtes Jahr für mich. Schon ohne dieses verdammte Rumoren in meinem Kiefer. Begonnen hat das mit einem Routinetermin im Februar. Ich gehe, gelassen wie Woody Allen beim Unterhosenkauf, alle paar Jahre zum Zahnarzt. Etwa acht oder neun sind es um ehrlich zu sein. Ich nehm mental Anlauf und ruf dort an. Wenn der Termin steht, werd ich panisch. Ich such mir jedes Youtube-Video über schmerzfreie Zahnbehandlung raus. Ich erkenne, dass das alles nicht ganz ehrlich wirkt. Wobei mich dieses Lachgas doch interessiert. Es hilft aber eh nix. Ich bin wie ein Hund: Ich fühle mich in meinem Revier souveräner als in der Fremde. Meine Zahnärztin frönt ihrer erschreckenden Berufung in meiner Heimatgasse. Ich hab also gar keine andere Wahl.
Der erwähnte Termin war aus zweierlei Gründen keine echte Routine. Zum einen will sich im Achtjahresrhythmus keine einstellen. Zum anderen pocht der zweite links unten ganz schön. Ich klicke mich von einem Video zum nächsten und lande bei einem, in dem Mr. Bean beim Zahnarzt sitzt. Ich lache unangemessen hysterisch. Die Tränen fließen und ich behaupte, das liegt an meinem Sinn für Humor. Als der Tag näher rückt, recherchiere ich die Vereinbarkeit von schweren Psychopharmaka und zahnärztlicher Behandlung. Was Genaues bekomm ich aber nicht raus. Egal, Leben ist Risiko. Am Vorabend der Behandlung präpariere ich mich mit Xanor. Am Morgen lege ich sofort nach. Ich gehe zu Fuß die Gasse runter und bin ein Schatten meiner selbst. Ich kenn die Gegend seit 48 Jahren. Unten am Platz habe ich als stolzer Kapitän der Nachwuchsmannschaft gekickt. Hab meine Freundinnen händchenhaltend begleitet. Und jetzt fühl ich mich wie in der kalten Fremde. Mich fröstelt. Das sind nicht die Plätze meiner Jugend sondern Feindesland – Zahnarztland. Ich läute an, die Gartentür geht auf. Ich will fliehen und bekomme Bauchschmerzen. Als ich ins Empfangszimmer komme, wabbert mir einlullende Thermenmusik entgegen. Wen wollt ihr eigentlich was vormachen? Ich hör doch den Bohrer. Ich werde herzlich begrüßt; wir sind ja fast Nachbarn. Im Wartezimmer entwickle ich verschiedene Ticks. Ich fahre mir dauernd mit der flachen Hand, vom Kinn beginnend, über das Gesicht bis zum Oberkopf. Dazwischen richte ich mich kerzengerade auf und lasse mich, wie von einer Kugel getroffen, zusammenfallen. Aber halt, ich hab mal was von Entspannungstechniken gelesen. Ich presse meine Hände vor dem Körper zusammen bis ich zittere, und lasse dann die Luft, gegen den Widerstand der Lippen, ausströmen. Die junge Frau, mir gegenüber, beginnt mich aus dem Augenwinkel misstrauisch zu beobachten. Es scheint, ich ängstige sie. „Ja fürchte dich nur. Du hast allen Grund dazu. Wir beide schauen in den Schlund der Hölle!“ Die Tür zum Behandlungszimmer geht auf, die Mutter der Frau verabschiedet sich, und die beiden verlassen, freundlich grüßend die Praxis. Ich bin sicher, dass sie mich höhnisch angegrinst hat. Ich werde aufgerufen. Ich kämpfe mit einem überwältigenden Fluchtreflex. Ich kann da nur rein, wenn ich die Augen schließe und mich in das schwarze Loch fallen lasse. Das ist genau das Gefühl.
Man ist wieder freundlich um mich bemüht. „Na, wie geht’s uns?“ Ich mache aus meinem Herzen keine Mördergrube und gestehe: „Ich hab einige Xanor genommen, macht das eh nix? Ich hab unglaubliche Angst, viel mehr als sie für möglich halten. Bevor sie reinschauen geben sie mir bitte, bitte eine Spritze. Geht das eh wegen der Xanor.“ Man ist von meiner medizinischen Kompetenz beeindruckt, vielleicht hält man mich aber auch einfach für eine Memme.
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Ich bekomme Stresstropfen in einem Glas Wasser – Ich glaube nicht an Stresstropfen. Dann soll ich Aufregungsbällchen kneten – ich glaube auch nicht an die Wirkung der Bällchen.
Es stellt sich heraus, dass ich eine Wurzelbehandlung brauche. Ich beginne trocken zu weinen. Ich hab mir auf Youtube auch angesehen, was dabei gemacht wird und welche Werkzeuge erforderlich sind. Ich bekomme eine Injektion. Die wirkt nicht. Auch die zweite und dritte bleiben wirkungslos. Das ist entzündet. Das Milieu ist sauer; oder so. Die alte Blombe wird entfernt und der Wurzelkanal freigelegt. Schon bis hier bin ich sündenfrei wie ein Neugeborenes. Ich habe alle abgebüßt. Die Helferin soll jetzt die „Kindernadel“ aufziehen. Ein Lichtblick! Ja, die Kindernadel! Die will ich haben. Endlich wurde ich verstanden. Es stellt sich heraus, dass man nur mit der Kindernadel direkt in den Wurzelkanal stechen kann. Ich kann darüber nicht weiter berichten, weil ich wieder zu weinen begonnen habe.
Ich verkürze: Nach unzähligen Behandlungen – ich glaube es waren vier – war ich fertig. Und das in jedem Sinn. Das war Anfang Juli. Dazwischen hatte ich eine Blinddarm OP; ich habe berichtet.
Seit vorgestern zieht der wurzelbehandelte Zahn wieder. Erster Reflex: „Ich sitz das aus. Das vergeht wieder. Allerdings: Ich fahre nächsten Samstag nach Kroatien. Was wenn das dort so richtig unerträglich wird? Ich hab heute Vormittag zu ergoogeln versucht, ob man unter dem Einfluss einer „Wundertüte“ zum Zahnarzt gehen soll/darf/kann. Es wird eher abgeraten.
Meine Ärztin öffnet heute um 12:30 Uhr. Ich dachte, ich mach das so: Wenn ich mich um 12:30 Uhr traue, mach ich einen Termin. Wenn nicht, dann lass ich es bleiben.
Ich seh grad, dass es 12:57 Uhr ist. Ich habe beim Schreiben die Zeit vergessen. Da kann man jetzt gar nichts mehr machen. Ein Gottesurteil.