Gib mir mal den Stern rüber

„Schau. Er sitzt vor seiner Liste. Er sieht so traurig aus. Er blättert in dem alten Kalender die Seiten zurück.“ „In dem blauen, in dem er jedes Jahr einträgt, wer ein Packerl bekommen soll?“ „Ja den verwendet er seit vielen Jahren. Gut, dass der so viele Seiten hat. Was macht er da?“ „Er ist jetzt bei der Seite von 2004. Vergleicht er, was er verschenkt hat?“

Ich sitze, wie jedes Jahr, vor meinem alten Kalender. Ein Geschenk meines Versicherers – so ein dicker Buchkalender. Die Ecken sind abgestoßen und er schaut schon recht schäbig aus. Ich habe ihn nie als Kalender verwendet. Ich trage jedes Jahr ein, wer welches Geschenk bekommen soll. Ich habe heuer noch nichts eingetragen. Nur die Überschrift „Weihnachten 2017“. Ich blättere zurück. Meine Schrift hat sich geändert. Auch der Stift ist über die Jahre nicht der Selbe geblieben. Wie waren die einzelnen Feste? Ich kann mich nicht erinnern. Sie waren ähnlich. „I wü mei Weihnachten wie immer“ hat der Ambros gesungen. Ich wollte das auch – Weihnachten wie immer. Es waren verzauberte Tage. Der Opapa war nervös. Schon seit Wochen hatte er Schnürln an die Windringerl gebunden. Viele sind ihm dabei zerbrochen. Er war recht patschert mein Opa. Das habe ich von ihm. Er hat gekichert und behauptet, er helfe dem Christkinderl. Vom 23. auf den 24. haben mein Bruder und ich immer bei den Großeltern geschlafen. Zwischen ihnen im Ehebett. Ich war meistens früh auf, war unruhig. Bald begann das Kinderfernsehen. Durchgehend, den ganzen Tag. Der Opapa schlief noch. Neben dem Bett, am Nachtkastl der Omama, lag ein Kugelschreiber. Sie hatte am Abend im Bett Kreuzworträtsel gelöst. Sie war schon wach. Ich roch den Kaffee den sie in der eisernen Kanne aufbrühte. Ich schnappte mir den Stift. Ich hatte gerade schreiben gelernt. Nicht alles. Aber einige Buchstaben konnte ich schon. Das „O“ und das „T“ konnte ich. Der Opapa hieß „Otto“. Ich beschloss das neu Erlernte praktisch einzusetzen. Ich hob die Decke und schob das Nachthemd des schnarchenden Großvaters hinauf. Er trug immer so ein blaues. Dann schrieb ich in Blockbuchstaben, Lateinschrift konnte ich ja noch nicht, „OTTO“ auf seinen Hintern. Das Frühstück verlief so, dass meine Omama kichernd mit der harten Bürste, einem Stück Seife und einem Waschlappen hinter dem markierten OTTO stand und seinen Arsch schrubbte. Der Opapa schimpfte mich einen „Rotzbuam“ einen dreckigen, was mir aber egal war weil das Kinderprogramm inzwischen begonnen hatte.

Ich denke daran und sehe, dass „Opapa“ schon seit Jahren nicht mehr auf meiner Liste steht.

Viel länger schon fehlt mein Papa. 1993 stand er noch mit uns, abgemagert und vom Krebs gezeichnet, unter dem Baum. Er konnte noch die kleine Nina, seine Enkelin, bei ihrem ersten Weihnachtsfest beobachten. Er hatte ihr am Christkindlmarkt einen faltigen, kleinen Stoffhund mit Sonnenbrillen gekauft. Der lag unter dem Baum. Mama hat mir gesagt, dass er den den ganzen Weg zum Auto gedrückt hat. Im nächsten Jahr war er nicht mehr dabei. Ich rechne nach. Heuer wäre er 67 Jahre alt geworden. Er hätte erleben können, dass seine kleine Nina eine wunderschöne junge Frau geworden ist, die nächstes Jahr heiraten wird. Der Stoffhund steht neben mir auf dem Regal. Die Brille hat er inzwischen verloren.

Es fehlen so viele auf meiner Weihnachtsliste.

„Du, Papa. Ich glaub er denkt gerade an uns. Er schaut wer auf seiner Liste fehlt.“ „Geh, Otto, kränk die net. Da, schneutz dich in den weißen Stern. Das sind die weichen.“ „Sieht er denn nicht, dass in seinem Kalender auch neue Namen stehen? Alex, Lisa, Matthias.“ Lass ihn ein bissl traurig sein, Mama. Du kennst ihn ja. Der Bub hat schon immer einen Hang zur Schwermütigkeit gehabt.“

Ich lass meine Liste liegen. Ich bin so schwermütig. Es ist schon dunkel. Das ist gut. Ich gehe nicht gern in den Wald, wenn ich dort nicht alleine sein kann. „Willi“ rufe ich meinen Hund. „Komm wir gehen ein bissl spazieren.“ Ich heb ihn in das Auto – er steigt mir alleine nicht ein. Als er klein war sollte er nicht springen und jetzt findet er das bequemer. Wir fahren zu dem Parkplatz am Waldesrand. Es ist finster und wir sind alleine. Ich suche meine Stirnlampe im Handschuhfach, setze sie über der Haube auf und wir gehen los. Mein Ziel ist eine kleine Lichtung. Ich mag sie sehr. Wenn wir schnell unterwegs sind, werden wir sie in 20 Minuten erreicht haben. Aber „Willi“ bestimmt das Tempo. Er nimmt mit seiner Nase eine Welt war, die mir völlig verborgen ist. Und doch existiert sie. Wir brauchen länger. Willi hat sich Zeit genommen. Aber da vorne sehe ich zwischen den Bäumen schon den Himmel vorblitzen. Wir sind gleich da. Mein Freund trottet mir voraus. So war ich schon mit seinen Vorgängern unterwegs. Sie fehlen mir sehr. Ich trete hinaus auf die Wiese. Der Boden ist hart. Sogar die Wasserstelle ist gefroren. Es sind keine fremden Menschen zu sehen. Das ist gut. Ich tue mir mit ihnen schwer. Alleine bin ich näher bei mir. Ich schalte das Licht der Stirnlampe aus. Die Dunkelheit legt sich über mich. Ich mag es wenn das „Nichts“ fest wird. Ich mache die Augen zu, lege den Kopf zurück und spüre das weiche, schwarze Seidentuch. Es ist gemacht aus dem, das ich sonst nicht spüre. Wenn die Welt laut und grell ist, ist es von mir getrennt. Aber in Augenblicken wie diesem wird die Kuppel über mir angehoben. Dann ist alles Eins.

Ich spüre alle die ich verloren habe. Schade, dass ich nie glauben konnte. Es wäre so schön wenn ich dieses „Opfer des Intellekts“ – so habe ich in meinen strengen Jugendjahren formuliert – bringen hätte können. Welcher Trost wäre es, wenn ich glauben könnte, dass sie mit mir unter dem Weihnachtsbaum stehen. Jetzt Angehörige einer Welt die ich nicht greifen, nicht begreifen kann. Aber ich kann es nicht. Ich konnte es nicht an ihren Gräbern und ich kann es auch jetzt nicht.

„Er steht da unten ganz allein.“ „Lass ihn doch. Er war immer etwas seltsam. Er ist gerne allein.“ „Glaubst du er weiß es nicht?“ „Nein, er ist so gefangen in seiner strengen Selbstdisziplin, dass er meint es wäre eine Selbsttäuschung sich billige Hoffnungen zu erlauben.“ „Gut, Religion war bei uns nie ein Thema. Du hast dir ja diesen Trost nicht mal erlaubt als du schon so krank warst.“ „Egal jetzt. Können wir ihm nicht irgendwie helfen? Er ist ja noch nicht so alt und es wäre schön, wenn er die Jahre die er noch unten bleiben muss, nicht so schwer an seinem Leben tragen würde.“ Tja, ich weiß es nicht. Er ist ja irrsinnig starrsinnig. Das war er schon als Kind. Aber… Vielleicht… Gib mir doch mal den Stern rüber. Den der so hell funkelt. Ja, genau den.“

Ich habe mich langsam gedreht. Ich mache die Augen wieder auf. Ich fühle mich schwer. „Ja Willi, du bist brav. Spinnt dein Herrl ein bissl? Steht mit geschlossenen Augen mitten auf der Wiese in der Dunkelheit. Wo schaust du denn hin, mein kleiner Freund. Ist da oben etwas?“

Was blitzt da am Himmel auf. Ist das ein Stern. Aber so hell und strahlend? Der ist mir dort noch nie aufgefallen. Wie schön wenn ich glauben könnte, dass meine Lieben dort Oben sind und mich beobachten. Vielleicht wollten sie mir jetzt, gerade in diesem Augenblick etwas sagen. Wenn ich das doch glauben könnte. Ich würde mir diesen Glauben schnappen. Ganz tief drinnen würde ich ihn verstecken. Und ich würde unter dem Baum stehen mit allen meinen Menschen. Mit denen hier und denen dort. Und wir würden „Stille Nacht“ singen. Wir alle. Die Mama, die Omama und der Opapa. Nur der Papa nicht. Der hätte seinen Motorradhelm auf. Den hat er immer aufgesetzt wenn die anderen zu singen begonnen haben.

„Komm Willi. Wir gehen nach Hause. Ich schreib noch meine Liste fertig.“

„Glaubst du er hat es begriffen? Das ist ein Krampf mit dem Buam. Er ist so stur wie du.“ „Ja, immer ich.“ „Aber schau mal. Da. Er hat sich umgedreht und schaut noch mal zu uns rauf. Und er legt die Stirn in Falten. Das macht er immer wenn er zweifelt.“

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Ackerzucht und Viehbau

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