Schwarz. Schwarz wäre besser gewesen. Noch lange nicht gut aber immerhin. Aber so wie es schließlich war, lag unser Leben unter einem grauen Schleier. Es war da, aber es war eine Albtraumausgabe seiner selbst. Und das sind die schlimmsten Träume. Die, die nahe am Echten sind.

Fast ein Jahr war es so. Und Reste des grauen Staubes liegen jetzt, bald 26 Jahre danach, immer noch in den Ritzen.

Begonnen hat es damit, dass Dich Mama solange bearbeitet hat, bist Du zur Gesundenuntersuchung gegangen bist. „Sie gefallen mir gar nicht“ hat der Arzt bei der Abschlussbesprechung gesagt. Und dass Du Dich genauer anschauen lassen sollst. Im Rahmen eines stationären Spitalsaufenthaltes. Sowas kam für Dich nicht in Frage. Du hast Dir wahrscheinlich draußen Eine angezündet, bist aufs Motorradl gestiegen und ins Geschäft gefahren. Und dann war eine Zeit lang nichts. Nichts offensichtlich Böses. Es war die Zeit unserer Galgenfrist. Ich, Dein Sohn, wurde Vater. Auf dem digitalisierten Video8-Film sehe ich, wie wir am Gang des Wilhelminenspitals stehen. Am 5. August 93. Der Tag an dem Du Opapa geworden bist. Ich halte meine kleine Tochter im Arm, die Familie steht rundherum und Du bleibst im Hintergrund. In der Hand hältst Du einen Fotoapparat, senkst ihn und fragst in meine Richtung: „Muss man dabei so verbissen schauen?“. Ich hebe kurz den Blick, schaue in Deine Richtung aber gleich wieder hinunter auf das kleine Bündel, das Nina heißen wird. Diese Aufnahme ist eine der wenigen Möglichkeiten, Deine Stimme zu hören. Bald danach bist Du für immer verstummt. Wenn ich jetzt die Bilder sehe wundere ich mich, dass wir nicht merkten, dass etwas nicht in Ordnung war. Ganz und gar nicht in Ordnung.

Du hattest mir einige Tage frei gegeben, damit ich alle Behördenwege erledigen konnte. In dieser Zeit musst Du den Knoten in der Leiste schon gespürt haben. Du warst wieder im Wilhelminen. Diesmal aber nicht dort wo das Leben beginnt. Du hast Dich anschauen lassen. In einem der hässlichen, alten Gebäude war das. Wir werden dort noch öfter sein, in den kommenden elf Monaten.

Jetzt aber arbeiten wir am „Fleck“. Das ist der Platz hinter dem großen Glashaus. Wir binden Dahlien auf. Das ist eine anstrengende Arbeit, wenn man das bei hundert Stöcken macht. Meine Mutter kommt rüber. Sie war beim Geschäft auf der anderen Seite der Straße. „Das Spital hat angerufen. Du sollst Dich dringend dort melden.“ In diesem Moment hat etwas begonnen, das so schlimm war, dass die Wunden die es unserer Familie geschlagen hat, wohl nie mehr ganz verschwinden werden. Sie sind zwar vernarbt, aber nicht schön. Nicht so, als hätte sie ein fähiger Arzt vernäht. Es ist wildes Fleisch, über das ich immer wieder streiche.

Es werden einige Tage vergehen, die uns etwas Schlimmes ahnen lassen, das wir aber nicht glauben wollen. Bald fällt jedoch das erste Mal das Wort Krebs. Lungenkrebs. Und als wir weiter fragen und telefonieren und nachlesen: Plattenepithelkarzinom. Ich spüre ein Beben. Eines von dem ich lange eine Ahnung hatte ohne glauben zu können, dass es wirklich eintreffen wird. Ich habe vor Jahren meine Eltern zum Flughafen gebracht. Sie sind für eine Woche nach Tunesien geflogen. Mein mächtiger, furchtloser Vater war vor so einem Flug immer ganz fertig. Schon dass er mich bei der Hinfahrt ans Steuer seines Autos gelassen hat, war die Vorwehe des kommenden totalen Kontrollverlustes in dem Flieger. Das war seine Sache nicht. Bei der Hinfahrt war es auf der Flughafenautobahn noch dunkel. Ich fuhr die Rampe zur Abflughalle rauf und ließ meine Eltern aussteigen. Mama drückte mich und ich den Papa – das war unüblich, weil Männer das nicht tun. Eigentlich. Ich bin ein schlechter Verabschieder. Ein wirklich miserabler Loslasser ganz im Allgemeinen. Es schmerzt. Das kenn ich von mir schon. Menschen die ich mag, kann ich nicht gehen lassen. Ich starte, schau noch einmal in den Rückspiegel und verlasse das Flughafenareal. Auf der Autobahn graut der Morgen und mich überkommt dort eine Traurigkeit, die den zukünftigen Schmerz vorweg nimmt. Es schnürt mir den Hals zu und mein Blick verschwimmt. Ich wische mit dem Handrücken über meine Augen. Ich weiß, dass ich alleine sein werde. Das Auto wird da sein. Der Wunderbaum den er aufgehängt hat wird weiter riechen und das Foto meiner Mutter wird vom Magneten am Armaturenbrett festgehalten werden. Aber ich bin dann alleine.

Es muss jetzt vieles geregelt werden. Jemand sollte unseren Betrieb weiterführen. Weil Es sein könnte. Dieses Es wird ab nun unser ständiger Begleiter sein. Das unvorstellbare und doch allgegenwärtige Es. Wir hatten geplant, dass ich irgendwann – nicht jetzt. Irgendwann – das Geschäft übernehmen werde. Ich wurde nie gedrängt. Im Gegenteil. Es war meine Entscheidung. Ich hab deswegen die Handelsschule gemacht. Eine Lehre wäre zwar sinnvoller gewesen, aber ich war ein guter Schüler. Obwohl ich es hasste in die Schule zu gehen, hängte ich die drei Jahre HAS an. Meine Eltern freuten sich darüber. Das war bei uns bislang nicht üblich, dass man länger als nötig die Schule besuchte. Außerdem ließ mir diese Ausbildung doch noch andere Möglichkeiten offen. Da das Gewerbe der Friedhofsgärtnerei ein nicht gebundenes war, passte da die HAS ganz gut. Allerdings wurde kurz vor der Erkrankung meines Vaters das Regulativ geändert. Wir waren plötzlich ein gebundenes Gewerbe, das zu erlernen war. Ausnahme wurde keine gemacht. Zu der Katastrophe die über uns herein gebrochen war, kamen nun existenzielle Ängste. Ich musste, ohne einen Tag die Berufsschule besucht zu haben, die Lehrabschlussprüfung nachholen. Die Theorie im Gewerbehaus und den praktischen Teil in der Berufsschule der Gärtner. Ich war einem Druck ausgesetzt, an dem ich zerbrechen hätte können. Wahrscheinlich ist auch manches in mir zerbrochen. Mein Vater und mein Bruder warteten auf mich vor der Berufsschule. Ich schleppte mich dort hinein, obwohl ich mich lieber zusammengerollt und unter der Decke verkrochen hätte. Als ich fertig war, sah ich sie draußen stehen. Papa hingen Fäden einer kleinen Naht aus dem Hals, als ich ihm entgegen ging. Dort wurde vor einigen Tagen eine Gewebsprobe genommen. Ich hatte die Prüfung geschafft.

Internet gab es damals noch nicht. Oder vielleicht gab es das schon, ich hatte aber keinen Zugang. Es war schwierig sich zu informieren. Artikel in Zeitungen, Bücher. Kein Googeln nach Lungenkrebs. Hätte ich das damals schon gekonnt, dann hätte ich gewußt, dass die Chancen meines Vaters fünf Jahre zu überleben minimal waren. So aber schnappte ich das Wort „Vollremission“ auf. An diesen Begriff hängte ich alle Hoffnungen. Waren wir zunächst noch optimistisch – andere Patienten hatten Papa beglückwünscht, weil er den „guten“ Lungenwurm (den großzelligen) erwischt hatte – so wurden die Nachrichten die wir im Laufe der Behandlungen erhielten immer niederschmetternder. Papa bekam Strahlentherapie und Chemo. Ein Entfernen des Tumors war nicht möglich. Es ging ihm mitunter sehr schlecht wenn er gerade eine Therapie bekam. Irgendwann kam er aus dem Spital und als wir nachfragten fiel das erste Mal: Unheilbar. Er vertraute aber den behandelnden Ärzten. Sie würden alles versuchen was möglich war. Soweit ich das beurteilen konnte – auch wenn ich es in der Rückschau betrachte – haben sie das getan. Die ganze Familie wurde eingeladen in das Spital zu kommen. Der verantwortliche Arzt, Dr. Pecherstorfer hat er geheißen, wollte mit uns sprechen. Ich bereitete mich vor. Keine Frage sollte vergessen werden. Ich hatte immer das Gefühl, dass man auf das Leben stets gut vorbereitet sein sollte, um Schlimmes zu verhindern. Und ich wollte mit Hoffnung nach Hause gehen. Wir saßen vor dem Schreibtisch des Arztes und gute Nachrichten gab es keine. Ich war irritiert weil dieser nette Mann mit den gütigen aber leicht traurigen Augen mir den schlimmsten Schlag meines Lebens versetzte. Nein, gesund wird mein Vater nicht werden. Aber es gehe um Lebensqualität. Ich konnte das nicht akzeptieren. Ich habe irgendeine Hoffnung gebraucht, um weiter leben zu können. Meine Mutter war völlig paralysiert, mein Vater gelassen. Obwohl er, mir kam es so vor, kleiner geworden war in den letzten Wochen. Ich bettelte um eine Chance. „Vollremission! Ich habe davon gelesen. Wenn schon keine Heilung, dann das. Ein absoluter Stillstand der Krankheit.“ Der Arzt merkte, dass es in dem Augenblick nicht um Wahrheit ging. Meinem Vater konnte er die zumuten. Mir nicht. „Ja, natürlich. So etwas kommt schon mal vor.“

Ich habe die nächsten Monate funktioniert. Eigentlich hätte ich ein froher, junger Vater sein sollen. Ich musste aber das Überleben der Familie sichern. Ich setzte mich mit Banken, Steuerberater, Finanzamt und Innung auseinander. Mein Vater zog sich rasch aus dem Betrieb zurück. Obwohl er der Schutzwall unserer Familie gegen alle Schwierigkeiten die das Leben so brachte war, übergab er die Verantwortung rasch an mich. Ich war es gewohnt, mich bei Problemen auf ihn verlassen zu können. Wir alle taten das. Wir wussten, dieser Bär schützt uns. Er, der selbst eine schwierige Kindheit hatte, stand immer an unserer Seite. Er war kein „Radlfahrer“ (nach unten treten und nach oben buckeln). Solch ein Verhalten verachtete er. Er hat sich besonders gern mit Leuten angelegt, denen eine Art von Autorität oder Machtposition zugeschrieben wurde. Da glänzten seine Augen. Ich werde nie vergessen, als ich in einer wirklich widerlichen Schule bei einer Lehrerin auf der Abschussliste stand. Es ging nicht um meine schulischen Leistungen – die waren in Ordnung – sondern um irgendeine Antipathie die wahrscheinlich daher rührte, dass ich Boxerleiberln und dicke Ketterln trug. Das in einer spießigen Schule an der die Eltern beim Schulbesuch dem Herrn Hofrat in den Arsch krochen und sich bedankten, dass er die Zuspätkommer persönlich an der Schulpforte abfing. Es war ein Scherbengericht geplant und mein Vater vorgeladen. Der kam, natürlich mit dem Motorradl, in der Kurzen (die trug er ab 10 Grad Aussentemperatur immer) und in Schlapfen. Seine Zehen waren vom Rasenschneiden mit der Motorsense grün. Er kam dort rein und stand an meiner Seite. Ich hab noch nie gesehen, wie Scheinautoritäten in kurzer Zeit derart entzaubert wurden. Der Herr Hofrat, der die Schüler die sich vom Religionsunterricht abmelden wollten, vor sich aufmarschieren ließ und ihnen sagte, sie wären keine Menschen wenn sie den Unterricht nicht besuchten und sie wieder in die Klasse schickte (ich blieb und beharrte auf meinem Recht), wurde auf 5 cm mit Hut zusammengefaltet. Abschließend sagte Papa denen, dass sie kein Mensch brauche, packte mich aufs Motorrad, und meldete mich in einer privaten Schule an. Das werde ich nie vergessen. Oder als zwei Herren der Kripo bei uns klingelten, weil mein Bruder von einem anderen Lehrling Autoradios erworben hatte, die dieser wohl geklaut hatte. Sie wollten unser Haus durchsuchen, auf dem vorgezeigten Beschluss war aber die Adresse mangelhaft (in unserem Haus gibt es mehrere Wohnungen). Er sagte denen, dass sie Pech gehabt hätten. Die haben sich aufgeblasen und gedroht „Wir können Sie auch mitnehmen.“ So schnell haben die nicht schauen können ist er bei der Türe gestanden „Geh ma“, hat er gebrummt. Das war natürlich nur eine Nebelgranate von denen, die aber wahrscheinlich bei 99 Prozent der obrigkeitshörigen Österreicher funktioniert hätte. Sie ruderten gehörig zurück und verlangten, mein Vater solle mit meinem Bruder vorbei kommen. Das tat der. Wieder an der Seite seines Sohnes, wo er seinen Platz gesehen hat. Der hatte seine Lektion gelernt, kaufte nie wieder Waren zweifelhafter Provenienz und wusste, dass er sich auf seinen Vater verlassen konnte.

Der selbst konnte das nicht. Als er zwölf war starb sein Vater. Er sagte mir oft, was er sich gedacht hatte: „Endlich. Jetzt kann er mich nicht mehr schlagen und seine Uhr, die Seamaster, bekomme ich auch.“ Mein Vater war eines der geschlagenen Kinder, das den Teufelskreis durchbricht und nicht zum Schläger wird. Nie hat er meinen Bruder oder mich geschlagen. Auch keine „gsunde Watschn“ gab es. Er war wild, oft unvernünftig, wurde mit 18 Vater und hatte Verständnis für jede Blödheit die wir ausheckten. Für sein Gefühl waren wir wahrscheinlich Hascherln. Das war schön, wurde aber jetzt zum Problem. Ich hab das damals nicht verstanden, jetzt tu ich es. Ich war 26 und hatte diese Loslösung nicht vollzogen. Ich musste keine bösen Rockstars verehren um meinen Spießervater zu stürzen. Er war so cool, dass das nicht nötig war. Aber nun wurde er klein und ich war nicht groß genug.

Ich lag in den Nächten wach und grübelte. Ich war ohne Hoffnung, meine Mutter suchte. Sie fand eine Ärztin, die eine Anhängerin des deutschen Arztes Rieke Gerd Hammer war. Der betrachtete den Krebs als einen Heilungsprozess. Der Körper reagiere damit auf einen Schock. Die Schulmedizin verursache den Tod, in dem sie durch Behandlung den Heilungsprozess unterbinde. Meine Mutter hielt, anders als der Rest der Familie, manches für möglich: Bachblüten, Horoskop. Diese Dinge. Und sie war verzweifelt. Eine verzweifelte, fesche 42jährige Frau, die um das Leben ihres Mannes kämpfen wollte. Sie bat mich, sie zu einem Vortrag dieses Scharlatans zu begleiten. Es war eine Qual. Ein Saal voller verzweifelter Menschen. Beim Eingang ein Tisch, auf dem die Schriften des Gurus feilgeboten wurden. Auf einem Podest seine Jünger. Ich erkannte zufällig eine Kundin. So eine alternde Esotante.

Der Mann war gefährlich. Er war es deswegen, weil er kein einfacher Abzocker, sondern durchdrungen von seiner Idee war. Er hatte seinen Sohn auf tragische Weise verloren, erkrankte selbst an Hodenkrebs, und entwickelte diese absurde Theorie. Die Menschen hingen an seinen Lippen. Er reimte fröhlich „bevor du zum Friedhof gehst, komm doch beim Hammer vorbei“ ….oder so. Leute, die seit Wochen keine guten Nachrichten bekommen hatten kicherten. Endlich einmal wieder. Der Mann entzog die Menschen einer vielleicht lebensrettenden Behandlung. Er stieß in die Schwäche der Schulmedizin: Mangelnde Zeit und ein Ausblenden der Person hinter der Krankheit. Manche alternative Methoden haben sicher ihre Berechtigung. Alleine das als ganzer Mensch Wahrgenommen-Werden ist etwas, das die Schulmedizin nicht in ausreichendem Maße bieten kann. Man ist auf seine Stärken konzentriert. Die sind erstaunlich, liegen aber auf anderem Gebiet. Es ist egal was in dem Fläschchen drinnen ist, das sie nach einem langen Gespräch mitnehmen. Solange sie sich gehört fühlen und mit der Zaubermedizin selbst etwas für ihre Heilung tun können. Es ist ein kleines Werkzeug gegen das Ausgeliefert sein. Aber dieser Mann war lebensgefährlich.

Wir kamen nach Hause wo mein Vater wartete. Er sah mich an: „Und?“. Ich schüttelte den Kopf.

Sein Zustand wurde immer schlimmer. Manchmal wollte er mit mir über die Zeit nach ihm sprechen. Ich verweigerte diese Gespräche. Einmal fuhr ich ihn an: „Wieso überlegst Du Dir nicht wie es sein könnte, das zu überleben!“ Ich hätte diese Gespräche führen müssen, konnte es aber nicht.

Ich habe einmal gelesen, es gäbe nichts Einsameres, als einen Sterbenden unter Lebenden. Ich glaube, das ist so. Vielleicht hätte ich diese Einsamkeit lindern können, wenn ich mit ihm den gedanklichen Schritt gemacht hätte.

Eines Tages war es so weit: Es ging ihm so schlecht, dass er ins Spital musste. Er bekam kaum Luft. Es war fürchterlich ihn dort zu sehen. Am nächsten Tag wollte er heim. Ich redete mit dem Arzt und er stimmte zu. Wir sollten eine Sauerstoffflasche für zuhause beantragen. Sehr viel mehr konnte auch im Spital nicht gemacht werden. Es war ein heißer Tag. Ich hatte Papas Auto vor dem Pavillon geparkt. Er wartete mein Gespräch nicht ab, sondern ging voraus. Er wollte dort nicht sein. Als ich ihm folgte saß er bei offener Tür schräg auf dem Beifahrersitz. Es war so falsch. Mein Vater sollte auf dem Fahrersitz auf mich warten. Er, der beim Siegl, einem Abschleppdienst am Wiener Gürtel, gearbeitet hatte, als er ein junger Mann war. Wenn bei uns mitten in der Nacht das Telefon geklingelt hatte, sprang er in sein Gewand, zog sich die dicken Stiefel an und holte ein Auto aus einer Schneewehe in Russland ab. In unserer Garage hing eine Karte wo die Punkte seiner Einsätze eingezeichnet waren. Und jetzt reichte seine Kraft gerade noch um sich in das Auto zu setzen. Ich schloss seine Türe, startete das Auto und fuhr aus dem Spital. In der Montleartstrasse bog ich nach links ab. Am Eck zur Thaliastraße standen fröhliche Menschen vor dem Eissalon. Diese Gleichzeitigkeit konnte ich nicht begreifen. Ausgelassene Fröhlichkeit und tiefes Leid. Man weiß das. Natürlich. Aber bis du in der Situation bist, erfasst du es nicht wirklich.

In den Nächten dachte ich immer wieder über die Beerdigung meines Vaters nach. Er lebte noch. Ich warf mir das vor. Aber der Gedanke krallte sich in meinen Kopf. Das Schreckliche war unausweichlich.

Am 28.Juli 1994 starb mein Vater auf seiner geliebten Couch. Knapp eine Woche vor dem ersten Geburtstag seines Enkelkindes. Wir hatten uns Essen beim mc donalds geholt und saßen in der Mansardenwohnung als meine Mutter gelaufen kam: „Ich glaube der Papa ist gestorben.“ Ich ging die Stufen hinunter und fand ihn zusammengesunken und friedlich. Er blieb noch eine Nacht bei uns, bevor er abgeholt wurde. In einem Chrysler Voyager, ein Auto das ihm immer sehr gefallen hat.

Als wir bei ihm gesessen sind sagte meine Mutter zu mir: „Jetzt bist Du unser Kapitän.“ Ich bekam in meiner Trauer große Angst.

Mein Bruder war zu dieser Zeit gerade in Griechenland auf Urlaub. Er hatte auch sehr gelitten und ich war froh, dass er etwas Atem holen konnte. Wir sagten, als er sich am Telefon erkundigte, nichts. Aber ich musste ihn und seine Freunde vom Flughafen abholen. Ich wusste nicht wie ich ihm das sagen sollte. Ich wollte meinen kleinen Bruder immer beschützen und musste ihm jetzt so wehtun. Die fröhliche Gruppe kam durch die Glastür und ich nahm ihn beiseite. Bei der Heimfahrt sah ich im Rückspiegel seine Tränen. Bei der Trauerfeier legte er die Halskette – ein Souvenir aus Griechenland – in den Sarg seines Vaters.

Als ich am Sonntag vor Papas Grab gestanden bin, fiel mir das alles wieder ein. Auch meine Mutter ist jetzt wieder bei ihm. Sie hat sich von dem Schlag nie wieder erholt. Ich habe getan was ich konnte. Ich hoffe er wäre einverstanden mit meiner Art für die Familie zu sorgen. Ich denke jedenfalls bei allen wichtigen Entscheidungen an ihn. Und wenn ich schwierige Situationen bewältigen muss, dann hole ich seine alte Omega Seamaster aus dem Safe, und dann sitzt er neben mir. Und manchmal, wenn ich Glück habe, dann ist mein kleiner Bruder an meiner Seite. Den hat er mir dagelassen. In ihm finde ich das Beste von meinem Papa wieder.

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