Ich war gestern in der Wohnung meiner Mutter. Sie ist vor 3 Jahren gestorben. Ich war alleine dort. Es war still. So still, dass man dieses leise Schwingen in den Ohren spürt – ich glaub man spürt es mehr als dass man es hört. Ich mag das. Ich nahm ihre Dinge in die Hand, drehte sie und roch daran. Ich suchte vergangene Tage. Vielleicht einen Durchschlupf, eine Türe die eigentlich verschlossen ist.

In dem Wandschrank dessen Inhalt ich eigentlich zu kennen glaubte, fand ich eine kleine Schachtel aus Karton. Ich machte sie auf und hielt, noch einmal sorgfältig verwahrt in einem Papiersackerl, einen Stoß Briefe in der Hand. Es war kalt in der Wohnung. Ich drehte den alten Gasofen auf, setzte mich an den Tisch, und öffnete ein Kuvert nach dem anderen.

Was ich da fand, waren viele kleine Leben. Einige haben ihr Ende bereits erreicht. Manche werden noch gelebt. Eine Postkarte in Schwarz-Weiß. Geschrieben in einem jener Bungalows am Rand eines Sees in Kärnten. Eine Gewerkschaftsanlage am Anfang der 60er Jahre. Ich werde sie später kennen lernen. Zu dieser Zeit gab es mich noch nicht. Es muss der erste Aufenthalt dort gewesen sein. Meine Großmutter erzählt in ihren Zeilen davon, wie wunderschön es dort ist. Der See, die kleinen Häuschen. Das gemeinsame Badehaus ist gar nicht weit entfernt. „Und stell Dir vor, man kann zu jeder Zeit warm duschen!“ Es gibt Heidelbeeren, Pilze und Kühe.

Das Menü für die Erwachsenen kostet 14 Schillinge – mit Mehlspeise – und das für meinen Onkel der damals noch ein kleiner Zwerg war, 8,50. Immer mit Gemüse.

Ich fand Vergangenheit, die irgendwann auch meine wurde.

Und ich begann, als ich von den Schwierigkeiten und Freuden, von den Ängsten und Hoffnungen las, mir Fragen zu stellen. Ich bin ein Urteiler. Ich fälle permanent Urteile. Meistens über mich aber auch über andere. Und es sind strenge Wertungen die ich abgebe. Oft sind sie gnadenlos. Ich wollte mich nie ins Unrecht setzen. Seit jeher kontrollierte ich mein Handeln. Als ich als junger Mann Richard Rortys „Kontingenz, Ironie und Solidarität“ las, war ich sehr überrascht. Er behauptet dort, dass alles, auch unsere letzten Werthaltungen, kontingent seien. Man könne sie durch beliebige andere ersetzen, behauptet er. Das widersprach allem an das ich glaubte. Ich glaubte an letzte Wahrheiten, an Gut und Böse auf einer nicht mehr verhandelbaren Ebene. Grautöne interessierten mich nicht. Beeindruckt hatten mich die Ideen trotzdem. Nur: wenn ich das tatsächlich so gelten ließe, dann würde ich doch dem aufziehenden Relativismus in die Karten spielen.

Ich war also weiter kritisch. Ich klopfte meine und die Handlungen anderer ab. „Ist das richtig was da passiert? Kann man es argumentieren?“ Ich fand, dass meine Großmutter ein ungerechter Mensch sei. Sie setzte sich permanent ins Unrecht, lieferte selbstgefällige Scheinerklärungen und war zusätzlich auch noch unehrlich. Etwa 25 Jahre vor Ihrem Tod brach ich jeden Kontakt ab. Ich ging auch nicht zu Ihrer Beerdigung. „Wer im Recht ist, der kann sich Konsequenz leisten – er muss es fast“, so dachte ich.

Nach dem Tod meines Vaters wurde auch das Verhältnis zu meiner Mutter schwierig. Sie hätte vieles anders, besser machen können. Sie war nicht kritisch genug und zu wenig konsequent. Und nun halte ich Briefe in der Hand die sie geschrieben hat, als sie 13,14 und 15 Jahre alt war. Ein kleines Mädchen aus einem Gemeindebau in der Vorstadt, das mit ihren Freundinnen durch die Gassen streunt, sich freut wenn der Nachmittagsunterricht entfällt und die erste Schulstunde, in der ein Kirchenbesuch vorgesehen ist, schwänzt. Sie interessiert sich nicht für Politik aber sehr für das Tanzen und für Buben. Mit 16 Jahren wird sie mich bekommen. Etwas das ich ihr vorwerfen werde. „Wie kann man nur“. „Die Gescheiteren haben erst ihr Leben in den Griff bekommen“ finde ich. Ich sage es selten, aber der Vorwurf ist da. Sie bemüht sich nach Kräften, ist aber wohl meist überfordert. Sie wird Zeit ihres Lebens depressiv sein und schwere Medikamente nehmen. Ich spüre das als Kind und leide darunter. Das macht mein Urteil noch härter.

Ich sitze, inzwischen ist es warm, unter dem Lichtkegel ihrer Lampe und überlege: „Hatte ich unrecht? War ich ungerecht?“ Ich glaube retrospektiv, dass meine Urteile meistens richtig waren. Ich habe Situationen analysiert und sie richtig beschrieben. Nein, ich hab es mir nie leicht gemacht. Und keinen habe ich je so kritisch bewertet wie mich selbst. Nur ja nicht so unzulänglich wie all die anderen sein. Es sich niemals leicht machen.

„Wenn man es den Leuten die Falsches tun erlaubt, sich rauszureden, im Nachhinein zu beschönigen und zu relativieren, dann haben sie keine Veranlassung sich zu bemühen.“ – so werde ich argumentieren. „Wenn du willst, dass deine Kinder dich für einen guten Vater halten, dann bemühe dich nach Kräften. Schönfärben ist ist nicht erlaubt!“

All das scheint mir vernünftig zu sein. Auch jetzt noch.

Aber vielleicht ist im Recht zu sein nur ein Teil des Ganzen. Womöglich einer, der viel weniger Gewicht haben sollte, als ich ihm immer zugemessen habe. Und kann es sein, dass obwohl du deinen Standpunkt redlich argumentiert hast, die Positionen des Gegenübers entkräftet hast – wirklich ehrlich und mit aller Überzeugung – es trotzdem du bist der im Unrecht ist?

Was wenn wir alle nur unser kleines Leben, das jedoch für jeden von uns so unendlich wichtig ist, leben, so gut wird das eben können? Uns bemühen aber ganz genau wissen, dass wir nicht annähernd perfekt darin sein werden. Und es anderen ebenso geht.

Meine andere Großmutter hatte über ihrer Wohnungstüre ein kleines Holzschild angebracht.

Die Spruch der darauf zu lesen war lautete:

„Bewahret einander vor Herzeleid, denn kurz ist die Zeit die ihr beisammen seid“.

Ich hielt das immer für eine sehr einfache Botschaft, gemacht für simple Gemüter.

Ich glaube mehr und mehr, dass diese Einschätzung ein großer Fehler war.

Ich habe viele schlaue Bücher gelesen. Mir Gedanken über so manche Theorie gemacht.

Aber vielleicht wäre das Anerkennen dieses einfachen Gedankens wichtiger als all das gewesen.

Und jedenfalls wichtiger als recht zu haben.

17
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
6 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

baur peter

baur peter bewertete diesen Eintrag 02.11.2017 19:54:35

harke

harke bewertete diesen Eintrag 01.11.2017 17:37:22

sisterect

sisterect bewertete diesen Eintrag 01.11.2017 14:27:35

Herbert Erregger

Herbert Erregger bewertete diesen Eintrag 01.11.2017 10:46:20

Spinnchen

Spinnchen bewertete diesen Eintrag 01.11.2017 08:16:04

Rincewind

Rincewind bewertete diesen Eintrag 01.11.2017 08:15:57

vera.schmidt

vera.schmidt bewertete diesen Eintrag 31.10.2017 09:52:57

gloriaviennae

gloriaviennae bewertete diesen Eintrag 14.10.2017 19:11:30

pirandello

pirandello bewertete diesen Eintrag 14.10.2017 17:09:47

Zaungast_01

Zaungast_01 bewertete diesen Eintrag 13.10.2017 05:03:54

Tourix

Tourix bewertete diesen Eintrag 11.10.2017 13:28:04

Silvia Jelincic

Silvia Jelincic bewertete diesen Eintrag 10.10.2017 23:13:25

Charlotte

Charlotte bewertete diesen Eintrag 10.10.2017 21:31:54

Petra vom Frankenwald

Petra vom Frankenwald bewertete diesen Eintrag 10.10.2017 20:19:41

Margaretha G

Margaretha G bewertete diesen Eintrag 10.10.2017 18:26:00

Markus Andel

Markus Andel bewertete diesen Eintrag 10.10.2017 15:47:33

Michlmayr

Michlmayr bewertete diesen Eintrag 10.10.2017 15:36:24

51 Kommentare

Mehr von Josef Huber